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Zwischenzustände (fast ohne Musik)von Stefan Schmöe / Fotos © Anne Van Aerschot / Ruhrtriennale 2016
Golden Hours ist der Titel eines Songs von Brian Eno aus dem Album Another Green World. Ein vier Minuten langes Stück Elektro-Pop, 1975 im Studio zusammengebastelt. Man hört es zu Beginn der Aufführung dreieinhalbmal hintereinander ohne Pause, und die elf Tänzerinnen und Tänzer beginnen bei der ersten Wiederholung, wie im Zeitraffer unendlich langsam die Bühne abzuschreiten. "The passage of time is flicking dimly up on the screen", heißt es da (etwa "die Zeitspanne flackert schemenhaft auf dem Bildschirm"), und darin deutet sich eine Aufhebung des Zeitverständnisses an. Alsbald fühlen sich die ersten Zuschauer angesichts der Wiedrholung des Songs in einer Zeitfalle gefangen - da bricht die Musik plötzlich ab, und von da an arbeitet Choreographin Anna Teresa De Keersmaeker im Wesentlichen ohne Musik. Tänzer Carlos Garbin greift gelegentlich zur Gitarre (mit eigenen Arrangements von Eno), aber das sind nur kurze Momente.
Ein Tanz-Stück von etwas mehr als zwei Stunden Dauer (ohne Pause) fast ohne Musik - das ist eine Herausforderung, nicht nur weil eine Dimension "fehlt", sondern weil eine so große und im Kollektiv erlebte Zeitspanne der Stille doch sehr ungewöhnlich ist. Natürlich geben die Bewegungen der Tänzer, auch die Geräusche im Publikum einen eigenen Klangraum ab, aber eine Irritation bleibt. De Keersmaeker arbeitet ja nicht zum ersten Mal mit derart puristischem Musikeinsatz, und sie hat eine fließende und natürliche Tanzsprache entwickelt, die sich nicht aus der Musik entwickelt, sondern aus sich selbst, aus den Tänzerpersönlichkeiten heraus entwickelt. Einmal mehr ist bewundernswert, wie die Choreographin dabei mit dem Raum spielt, diesen durchmisst, einbezieht und erobert. Das hat etwas sehr Organisches, und jeder Schritt, jede Bewegungsfolge hat ihre eigene Logik.
Mehr als Brian Eno ist William Shakespeares Komödie As You Like It (Wie es Euch gefällt der Motor des Stückes. Auch da gibt es den Zeitbezug: " Time travels in diverse paces with diverse persons", sagt Hauptfigur Rosalind - "Die Zeit reiset in verschiednem Schritt mit verschiednen Personen." Rosalind ist vom Hof geflohen, als Mann verkleidet, und trifft hier auf den Mann Orlando, den sie liebt und der sie liebt (aber nicht erkennt). Zu Shakespeares Zeit wurden Frauenrollen bekanntlich mit Männern besetzt, Shakespeare hat dieses cross-casting gezielt eingesetzt, und De Keersmaeker greift das Wechselspiel der Geschlechter auf. Rosalind erscheint als faszinierendes Doppelwesen zwischen Mann und Frau, aber ohnehin heben die Kostüme (Anne-Catherine Kurz) mit eng anliegenden schwarzen Leggins und ansonstenbunter Alltagsbekleidung die feste Rollenzuschreibung auf (nur an einer Stelle kommt ein historisierendes, auf das Elisabethanische Zeitalter anspielendes Kostümstück wie ein fremdes Zitat dazu).
De Keersmaeker lässt keineswegs die Handlung darstellen, auch eine Rollenzuteilung ist nur hier und da erkennbar. Gesprochen wird nicht, immer wieder wird quasi als Leitfaden eine Textzeile eingeblendet. Die Tanzsprache bewegt sich faszinierend sicher zwischen Abstraktion und konkreten Gesten. Shakespeare verlegt seinen Liebesreigen in einen Wald, in mancher Hinsicht ein Pendant zum Midsummer Night's Dream, und diese träumerische, der Realität entrückte Atmosphäre greift De Keersmaeker auf, nicht romantisierend, sondern in einem nicht greifbaren Schwebezustand, der vieles andeutet, aber offen lässt. Das ist nicht einfach eine Deutung der Shakespeare-Komödie, vielmehr gibt diese den Rhythmus und die Dynamik des Tanzes vor. Ein Problem bleibt allerdings die ausufernde Länge des Stückes, das Akt für Akt der Vorlage folgt und sich dann doch erschöpft. Etwas mehr Musik wäre dann doch schön.
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Produktionsteam
Choreographie
Künstlerische Beratung
Musikalische Arrangements
Kostüm
Licht
SolistenAron Blom Linda Blomqvist Tale Dolven Carlos Garbin Tarek Halaby Mikko Hyvönen Veli Lehtovaara Sandra Ortega Bejarano Elizaveta Penkova Georgia Vardarou Sue-Yeon Youn. weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2015 - 2017 Homepage der Ruhrtriennale Berichte von der Ruhrtriennale 2012 - 2014 Intendant: Heiner Goebbels) Ruhrtriennale 2009 - 2011 Intendant: Willy Decker) Ruhrtriennale 2008 Ruhrtriennale 2005 - 2007 (Intendant: Jürgen Flimm) Ruhrtriennale 2002 - 2004 (Intendant: Gerald Mortier) |
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