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Der Tod bleibt unfassbarvon Stefan Schmöe / Fotos © Chris van der Burght / Ruhrtriennale 2016
Der Titel dieses Stücks bleibt rätselhaft. Nicht schlafen - daran kann man den Appell erahnen, aufmerksam zu bleiben für die Zeichen einer Zeit, die manche Parallelen zur ersten Dekade des 20. Jahrhunderts aufweist, in der Gustav Mahler seine Symphonien komponierte. Der taumelnde Kontinent hat der Historiker Philipp Blom sein 2009 erschienenes Buch über die Zeit von 1900 - 1914 genannt, das für Alain Platel den Ausgangspunkt für seine choreographische Beschäftigung mit der Musik Mahlers bildete. Acht Tänzer und eine Tänzerin verwickeln sich da zunächst in eine handfeste Balgerei, zerfetzen sich gegenseitig die Kleidung, jeder drischt auf jeden ein. Ein Bild von Gewalt und Aggression, noch verstärkt durch die klar sichtbare Multikulturalität der Akteure. Dahinein bricht (vom Band) das Adagietto aus Mahlers 5. Symphonie, und so schmerzhaft erfahrbar wie hier war die Schönheit dieser Musik selten. Mahlers Zerrissenheit zwischen dem Martialischen seiner (und unserer) Zeit, das sich in den Marschrhythmen vieler Symphoniesätze widerspiegelt, und der utopisch aufleuchtenden Verklärung eben solcher Schönheit wie in diesem Adagietto, das ist ein Thema dieser Produktion.
Das Spannungsfeld von "Schlaf" und "Tod" spielt eine entscheidende Rolle. Drei Pferdekadaver hat die Künstlerin Berlinde De Bruyckere für das Bühnenbild modelliert, dahinter ein riesiges, beflecktes und an vielen Stellen zerrissenes Tuch. In den Kadavern mag man Anspielungen an die Schlachten vergangener Kriege, auch des 1. Weltkriegs, erahnen. Vor allem aber gewinnen sie als Skulptur Bedeutung, stehen auf bizarre Weise für den Tod und dessen Unfassbarkeit. Auch die Tänzer nehmen, oft in Paaren oder Gruppen, immer wieder geradezu skulpturale Haltungen ein, sehr akrobatisch, wobei die scheinbar unmögliche Position der Körperschwerpunkte immer wieder das Gleichgewicht bedroht - auch Zeichen großer Anspannung. Auf der akustischen Seite unterlegt der belgische Komponist Steven Prengels Mahlers Musik mit Tonaufnahmen schlafender Tiere (aufgenommen von einer unter dem Pseudonym K94814 arbeitenden Fotografin, die Bilder von Tieren aus dem Schlachthof, auch vom Prozess des Schlachtens, veröffentlicht hat - eine Ausstellung dazu ist ab Oktober 2017 in München zu sehen). "Atmen" ist im Werk von K94814 Ausdruck des Lebenswillens. Vielleicht ist "nicht schlafen" in diesem Kontext als Synonym für "gestorben sein" zu verstehen.
Um das Thema "Tod" kreist Mahlers 2. Symphonie, wobei Platel und Prengels das Auferstehungsfinale mit dem affirmativen Ausruf "Sterben wirst Du, um zu leben!" aussparen. Einen kurzen Ausschnitt Hör' auf zu beben! Bereite Dich zum Leben!, von Prengels als a-capella-Chorsatz umgeschrieben und von den Tänzern mehrstimmig sehr passabel gesungen, haben sie an den Beginn gesetzt. Der komplette erste Satz, von Mahler ursprünglich als Totenfeier bezeichnet, steht am Ende von nicht schlafen, und das alles unterstreicht, dass es hier immer wieder um das Thema "sterben" geht. Die Choreographie entzieht sich aber einer einfachen Deutung, erzählt keine fortlaufende Geschichte, setzt collagenartig unterschiedliche Effekte nebeneinander. Manches bleibt völlig rätselhaft. Dann gibt es ganz konkrete Szenen - am drastischsten, wenn ein Mann offenbar getötet wird. Dann wieder dominiert der Tanz. Manchmal lässt Platel die Tänzer Schritte und Sprünge des klassischen Balletts vorführen - was im merkwürdigen, ja beinahe karikierenden Kontrast zu den Kostümen (Dorine Demuynck) steht: Billige Alltagskleidung, bunte Jacken (das erinnert an die Bilder von aktuellen Flüchtlingsströmen). Manche Tänzer tragen nur Unterhosen (mal mit, mal ohne Strümpfe). Alltagsbanalität und Hochkultur treffen da unvermittelt aufeinander.
Als Kontrapunkt zu Mahler singen die Tänzer und Musiker Boule Mpanya und Russel Tshiebua, beide aus dem Kongo stammend, einen komplexen Gesang der Pygmäen - noch so ein Bruch, der durch diese Produktion geht. Platel ist zudem kein Choreograph, der seiner Compagnie Bewegungsfolgen vorgibt; vielmehr entstehen diese gemeinsam während des zieloffenen Probenprozesses. Nicht schlafen hat diese offene Form beibehalten. Es ist, als dürfe man als Zuschauer einen Moment in ein System hinein schauen, das sich einem nicht oder nur in Ansätzen erschließt. Man muss nicht alles verstehen an diesem Stück, man darf sicher nicht nach Metaphern suchen - das ist keine Kunst, die ihre Aussage entschlüsselbar chiffrieren möchte. Gleichwohl berührt nicht schlafen, macht betroffen. Im Triennale-Kontext der hehren Aufklärungs-Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind wir damit freilich irgendwo auf der ganz anderen Seite angekommen.
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Produktionsteam
Regie
Komposition und musikalische Leitung
Bühne
Kostüm
Licht
Dramaturgie
Musikdramaturgie
SolistenBérengère Bodin Boule Mpanya Dario Rigaglia David Le Borgne Elie Tass Ido Batash Romain Guion Russell Tshiebua Samir M'Kirech weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2015 - 2017 Homepage der Ruhrtriennale Berichte von der Ruhrtriennale 2012 - 2014 Intendant: Heiner Goebbels) Ruhrtriennale 2009 - 2011 Intendant: Willy Decker) Ruhrtriennale 2008 Ruhrtriennale 2005 - 2007 (Intendant: Jürgen Flimm) Ruhrtriennale 2002 - 2004 (Intendant: Gerald Mortier) |
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