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42. Tage Alter Musik in Herne09.11.2017 - 12.11.2017 Musik im Wandel der Zeit
Als die 42. Tage Alter Musik in Herne mit Reinhard Kaisers Der blutige und sterbende Jesus zu Ende gingen, ließen sie den Zuhörer nach zweieinhalbstündiger Aufführung mit einem befremdlichen Gefühl zurück. Das 1705 uraufgeführte und in einer späteren Fassung von 1729 überlieferte Werk stieß schon seinerzeit auf den entschiedenen Widerspruch der Hamburger Geistlichkeit. Die Leidensgeschichte Jesu, in Versform von Christian Friedrich Hunhold nachgedichtet und im Stile der Oper von Kaiser in Musik gesetzt, ohne Evangelisten, dafür mit Protagonisten, die sowohl im Rezitativ als auch in den Arien miteinander in den Dialog treten, war zu jener Zeit ein Novum. Beim zahlenden Publikum fand das Werk allerdings großen Zuspruch, wie die Wiederaufnahmen folgender Jahren beweisen. Schließlich hat sich die Form des Passionsoratoriums durchgesetzt. Der blutige und sterbende Jesus mag insofern eine Pioniertat sein. In seinem eher gefälligen Operngestus erscheint das Werk aber auch dem heutigen Hörer je nach Standpunkt skurril oder gar blasphemisch, wenn beispielsweise der am Kreuz sterbende Jesus mit seiner Mutter Maria ein Duett singt. Die Ausführenden im Herner Kulturzentrum wirkten diesem Eindruck nur selten entgegen. Die Rezitative blieben selbst dort, wo der Text einmal einen dramatischeren Affekt nahegelegt hätte, zu sehr ihrer gleichförmigen Versform verhaftet. Dominik Wörner gestaltete die Partie des Jesus mit schönem Bass, aber wenig überzeugender Betroffenheit. In der Rolle der Tochter Zion (1) war Marie Luise Werneburg mit jugendlich frischem Sopran zu hören. Ihr zur Seite sang Anna Kellnhofer als zweite Sopranistin die Partie der Maria. In den weiteren Solopartien wirkten mit: Margot Oitzinger (Alt, Tochter Zion 2), Manuel König (Tenor, Petrus), Benjamin Glaubitz (Tenor, Judas) und Matthias Lutze (Bass, Caiphas). Den ohnehin schwachen Spannungsbogen des Werks aufrecht zu halten gelang ihnen ebenso wenig, wie dem Cantus Thuringia und der Capella Thuringia unter der Leitung von Bernhard Klaprott. (siehe auch unsere gesonderte Rezension) Doch darf man insgesamt eine weitgehend positive Bilanz unter die zehn Konzerte des traditionsreichen Herner Festivals ziehen, das in diesem Jahr unter dem Motto „Aufbruch“ stand. Die Tage Alter Musik begannen in der Kreuzkirche mit feiner, sensibel abgestimmter Barockmusik aus den lutherischen „Kernlanden“ in Nord- und Mitteldeutschland, gespielt vom Ensemble Neobarock. Neben Instrumentalwerken von Philipp Heinrich Erlebach, Johann Vierdanck, Johann Rosenmüller und Johann Fischer standen zwei Vertonungen des „Vater unser“ von Christian Geist und Christian Ritter auf dem Programm. Marianne Beate Kielland sang sie mit warmem Mezzosopran. Eine Auswahl kunstvoll ausgearbeiteter Fugen von Johann Walter (1496-1570) stellte den Bezug zur Zeit Martin Luthers und zu den Anfängen der protestantischen Kirchenmusik her. Capella Mariana, v.l.n.r.: Barbora Kabátková, Sabine Lutzenberger, Vojtěch Semerád, Tomáš Lajtkep, Tomáš Král, Jaromir Nosek Ebenfalls in der Kreuzkirche präsentierten die Capella Mariana und die Capella Ornamentata unter der Leitung des Tenors Vojtěch Semerád Musik aus Böhmen. Im Mittelpunkt des Konzerts stand die Messe Dolorosi martir von Kryštof Harant, der, 1564 geboren, nach dem Sieg der Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg als protestantischer Aufständischer 1621 in Prag hingerichtet wurde. Kombiniert mit Vokal- und Instrumentalkompositionen u. a. von Alessandro Orologio, Liberale Zanchi, Giovanni Gabrieli, Jacobus Vaet ließen die vorzüglichen Sängerinnen und Sänger der Capella Mariana, unterstützt von den Instrumentalisten der Capella Ornamentata, eine faszinierend reiche musikalische Welt an der Schwelle von der Renaissance zum Barock wiedererstehen. Das Vokalensemble Magnificat in der Kreuzkirche Das Vokalensemble Magnificat spürte den Einflüssen des in Florenz wirkenden Dominikanermönchs Girolamo Savonarola in der Musik des 16. Jahrhunderts nach. Unter der Leitung von Philip Cave sang die britische A-Capella-Formation Motetten von Heinrich Isaac, Josquin Desprez, Orlando di Lasso, Nicolas Gombert und William Byrd. Mit präziser Feinabstimmung und differenzierter Dynamik nahmen sich die zwölf Sängerinnen und Sänger der kunstvollen kontrapunktischen Architektur dieser Werke an. Intime, andachtsvolle Momente wechselten mit großer Klangpracht ab. Joana Seara, Sopran und João Ferandes, Bass Im Herner Kulturzentrum feierte das Originalklangensemble Os Músicos do Tejo, vom Cembalo aus geleitet von Marcos Magalhães, seine Deutschlandpremiere. In ihrem außergewöhnlichen Programm thematisierten die Portugiesen den Wandel im Musikleben ihrer Heimat nach dem verheerenden Erdbeben, das die Hauptstadt Lissabon im Jahre 1755 nahezu vollständig zerstört hatte. War zunächst auch in Portugal, wie andernorts in Europa, die vom Adel favorisierte italienische Oper tonangebend, kamen nach der Naturkatastrophe volkssprachige Lieder mit einfacher Instrumentalbegleitung, sogenannte „Modhinas“, durch ein selbstbewusster gewordenes bürgerliches Publikum mehr und mehr in Mode. Im ersten Teil des Konzerts, das dem italienischen Einfluss gewidmet war, trübte noch manche Unstimmigkeit den eher blassen Gesamteindruck des Orchesters. Nach der Pause boten Os Músicos do Tejo dann aber kurzweilige, rhythmisch vital vorgetragene Interpretationen einer Auswahl von Modhinas, deren Verwurzelung in der portugiesischen und brasilianischen Folklore deutlich zu hören war. Zu einem Erfolg machten den Konzertabend vor allem die beiden sympathischen Solisten Joana Seara (Sopran) und João Fernandes (Bass), die mit hör- und sichtbarer Freude am eigenen Tun auf der Bühne die Sympathien des Publikums gewannen. Francesca Caccini, Tochter des Sängers und Komponisten Giulio Caccini, gehört zu den bedeutendsten Komponistinnen des italienischen Barockzeitalters. Davon, dass sie vorzügliche Musik schrieb, konnte man sich anhand der Oper La Liberazione di Ruggiero dall’Isola d’Alcina beim diesjährigen Festival in Herne überzeugen. Francesca Caccini bezeichnet das Bühnenwerk als „Balletto in musica“. Tatsächlich hält das schwache Libretto von Ferdinando Saracinelli selbst den im 17. Jahrhundert sehr großzügig ausgelegten Anforderungen an ein „Dramma per musica“ nicht stand. Die Statik des Geschehens, verbundenen mit abrupten Auflösungen von Konflikten zwischen den Protagonisten stellte das Durchhaltevermögen des Publikums auf eine anderthalbstündige ununterbrochene Probe. La Liberazione di Ruggiero ist mehr ein allegorisches, pädagogisch motiviertes Spiel für heranwachsende Prinzen um höfische Tugenden als ein Musikdrama und folglich – wäre da nicht die hörenswerte Musik von Francesca Caccini – im 21. Jahrhundert nur schwer vermittelbar. Dass die Aufführung in Herne trotzdem hörenswert war, lag nicht zuletzt an María Cristina Kiehr (Sopran) in der Rolle der Alcina, Romain Bockler (Bariton) als Ruggiero und an der ausgezeichneten Sarah Breton (Mezzosopran) als Melissa. Ihnen aufmerksam zur Seite stand das Ensemble Concerto Soave unter der Leitung von Jean-Marc Aymes. (siehe auch unsere gesonderte Rezension) Ensemble des 18. Jahrhunderts mit Susanne Regel (3. v. l.) im Kulturzentrum Ein Höhepunkt der 42. Tage Alter Musik fand zeitlich eher am Rande, am Sonntagmorgen, statt. Telemann grenzenlos hieß das Motto der Matinee zu Ehren des vor 250 Jahren verstorbenen großen deutschen Barockkomponisten. Die Oboistin Susanne Regel hat eigens für dieses Herner Konzert zusammen mit weiteren Originalklangspezialisten das Ensemble des 18. Jahrhunderts gegründet. Im Kulturzentrum debütierten sie mit Instrumentalmusik von Georg Philipp Telemann, die den erstaunlichen stilistischen Horizont dieses Komponisten erahnen ließ. Den Auftakt bildete das Konzert d-Moll für Oboe, Streicher und Basso continuo. Die nachfolgende Ouvertüre „Les Nations“ spielte das Streicherensemble mit kammermusikalischer Transparenz und federndem Schwung. Wo es galt, wussten sie mit kräftigem Bogenstrich Akzente zu setzen. Der erste Teil endete mit der Triosonate g-Moll für Violine, Oboe und Basso continuo aus dem „Getreuen Music-Meister“, in der Susanne Regel und Emilio Percan ein spielfreudiges Duo bildeten. Nach der Pause wurde die Matinee mit der Ouvertüre g-Moll für Oboe und Basso continuo, ebenfalls aus dem „Music-Meister“, fortgesetzt. Auch hier ließ Susanne Regel mit warmem, gesanglichem Ton und sprechender Artikulation aufhorchen. Ein Concerto a 4 d-Moll für zwei Violinen, Viola und Basso continuo in der typischen Satzfolge einer „Sonata da chiesa“ demonstrierte Telemanns Souveränität im Umgang mit dem italienischen Stil, ehe das exzellente Konzert mit der groß besetzen, an französischen Vorbildern orientierten Sonate e-Moll für zwei Oboen (Susanne Regel, Wolfgang Dey), zwei Violinen (Emilio Percan, Fiona Stevens), zwei Violen (Gabrielle Kancachian, Xandi van Dijk) und Basso continuo (mit Markus Möllenbeck: Violoncello, Christian Berghoff-Flüel: Violone und Wolfgang Kostujak: Cembalo) zu Ende ging. Das Publikum entließ die Ausführenden mit langen Ovationen und nach zwei Zugaben. Das Ensemble des 18. Jahrhunderts knüpfte mit dieser Darbietung an eine lange Tradition herausragender Kölner Alte-Musik-Formationen an. Es wäre schön, wenn das Projekt keine Eintagsfliege bliebe. Der Auftritt in Herne wird jedenfalls in Erinnerung bleiben. Weitere mögen folgen. Zurück zur Übersicht |
Programm:
Donnerstag, 9. November Freitag, 10. November 20.00 Uhr, Kulturzentrum Samstag, 11. November 16 Uhr, Kreuzkirche 20.00 Uhr, Kulturzentrum 23.00 Uhr, Künstlerzeche
Unser Fritz 2/3 Sonntag, 12. November 16 Uhr, Kreuzkirche 19.00 Uhr, Kulturzentrum
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