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Form und Zeichen in abnehmendem Lichtvon Stefan Schmöe / Fotos © Anne Van Aerschot / Ruhrtriennale 2017
Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen. / Wer ist, der uns Hilfe bringt, / dass wir Gnad erlangen? So übersetzte Martin Luther den vermutlich im 8. Jahrhundert entstandenen gregorianischen Choral Media vita in morte sumus, der (um weitere Strophen ergänzt) in die christlichen Gesangbücher gelangte. Wenn Anne Teresa De Keersmaeker ihrer Choreographie der sechs Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach diesen Titel gibt, wird das Programm mehr als nur umrissen: Es geht um nicht weniger als Leben und Tod.
Zunächst aber versucht De Keersmaeker, die quasi-mathematische Struktur der Musik mit ihren Symmetrien tänzerisch aufzugreifen. Auf dem Boden der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck am nördlichen Rand des Ruhrgebiets sind ganz fein geometrische Figuren aufgezeichnet, im Dämmerlicht mehr zu ahnen als zu erkennen. Dazu kleben De Keersmaeker und ihre Tänzer vor jeder der Suiten mit Klebeband weitere Linien (einmal wird mit Kreide ein Kreis gezogen) - Muster, die auf Zahlenverhältnisse wie den Goldenen Schnitt verweisen. Auch leitet sie jede der Suiten mit zeichenhaften Gebärden ein, die Zahl und Form beinhalten - das Quadrat etwa für vier und die vierte Suite. Das Verfahren hat etwas Mystisches, das sich allerdings nur in Ansätzen auf die Komposition zurückführen lässt, über deren Entstehung wenig bekannt ist. Vermutlich um 1720 herum komponiert, ist nicht einmal gesichert, ob Bach die sechs Werke von vornherein als Zyklus angelegt hat oder nicht. Unabhängig von solchen Fragen ist die tänzerische Umsetzung zunächst von geometrischen Aspekten bestimmt. Choreographie bedeute, "Bewegungen in Zeit und Raum zu organisieren", bemerkt De Keersmaeker im Programmheft. Dass dabei eine Phrase in Dur einer Vorwärts-, eine in Moll einer Rückwärtsbewegung entspricht, dass ein A-Teil eines Satzes einer Bewegung im Uhrzeigersinn, der B-Teil einer solchen in umgekehrter Richtung entspricht, entnimmt man eher dem Programmheft als der unmittelbaren Wahrnehmung. Offensichtlicher sind bestimmte Grundmuster wie die Gerade (in den Menuetten) und der Kreis (in der Gigue) oder seltsame Sprungfiguren mit geschlossenen Beinen rückwärts (in den Allemanden). Die Wiederkehr bestimmter Bewegungsmuster korrespondiert mit dem barocken Schema der Suite, bei der nach dem Präludium die Satzfolge Allemande - Courante - Sarabande - Gigue verbindlich war (vor der Gigue hat Bach in den ersten beiden Suiten eine zweiteiliges Menuett, in den mittleren eine Bourrée, in den letzten beiden eine Gavotte eingefügt).
Als zentralen Moment des Zyklus macht De Keersmaeker die Sarabande der fünften Suite aus, weil diese in etwa im Goldenen Schnitt der Komposition stehe (so schreibt es Dramaturg Jan Vandenhouwe - allerdings ist die Berechnungsgrundlage nicht nachvollziehbar). Die melancholischen Sarabanden stehen, etwas vereinfacht gesagt, in dieser Choreographie für den Tod, die obligatorische Gigue am Ende jeder Suite für das Leben. Also für die Auferstehung? So eindeutig ist das nicht, würde aber der Großform des Abends entsprechen. Die ersten drei Suiten werden weitgehend solistisch getanzt, die erste von Michaël Pomero, die zweite von Julien Monty, die dritte von Marie Goudot, und in allen hat die Individualität des Tanzenden Bedeutung. Bei den Allemanden (auch bei der Bourrée der dritten Suite) kommt Anne Teresa De Keersmaeker dazu. In der vierten Suite, im Prinzip ähnlich angelegt als Solo für Boštjan Antoncič kommt es zum Bruch. Cellist Jean-Guihen Queyras - der auf der Tanzfläche sitzt, wobei sich sein Platz ebenfalls nach geometrischen Mustern spiralförmig ändert - verlässt den Saal und sie Sarabande erklingt von ferne, fast unhörbar. Die Bourrée wird ganz ohne Musik getanzt. Im Folgenden gibt es umgekehrt Sätze, in denen der Cellist im harten Streiflicht allein auf der Bühne ist. Musik und Tanz verstummen auf jeweils eigene Weise. Ein Zeichen für den Tod? Dazu kommt ein Spiel mit dem Tageslicht: Bis zur fünften Suite (in "dunklem" c-Moll) ist es fast Nacht geworden (und die Bühne nur spärlich beleuchtet), zur sechsten, in strahlendem D-Dur, für das Kollektiv aus allen fünf Tänzerinnen und Tänzern ausgearbeitet, geht die Beleuchtung gleißend hell an. Ein Bild für das Jenseits - oder Auferstehung? Jedenfalls ein Sieg über den Tod.
Anne Teresa De Keersmaekers Zeichensystem bleibt eine recht verkopfte Angelegenheit. Gewohnt spröde ist die unmittelbare tänzerische Umsetzung, die nur entfernt das Vokabular des klassischen Balletts andeutet (am ehesten in den Pirouetten) und auf "natürliche" Bewegungen setzt. Den "horizontalen" Laufbewegungen stehen "vertikale" Abläufe entsprechend der Achse Erde-Himmel gegenüber: Ein sich krümmen auf dem Boden als Kontrast zum durchgestreckten, hoch aufgerichteten Körper. Dieses Programm bleibt in einer Alltagswelt verhaftet. Die Kostüme (An D'Huys) sehen aus wie Freizeitkleidung, zumindest bei den drei Herren in bequemen Shorts und Shirts sowie leichten Sport- oder Straßenschuhen. Marie Goudot trägt ein knappes schwarzes, ziemlich durchsichtiges Oberteil, De Keersmaeker ein mehrfach geschlitztes Kleid, die Farben bewegen sich zwischen dunkelblau und schwarz (was im Dämmerlicht kaum einen Unterschied macht). Aufgrund des Altersunterschieds zwischen De Keersmaeker und den anderen Tänzern, aber auch deren auffälliges Kleid nimmt sie eine Sonderstellung ein, deren Bedeutung aber unklar bleibt. Es dauert lange, bis es eine der ganz wenigen Berührungen gibt, selbst die nicht als Solo choreographierten Nummern sind mehr eine Verdopplung (mit kleinen Verschiebungen) oder Gegenbewegung als ein Pas de deux im gewohnten Sinn. Es haftet der Choreographie etwas konstruiert unterkühltes an.
Ganz anders die musikalische Interpretation durch den Cellisten Jean-Guihen Queyras, der die sinnliche Ebene der Musik spürbar macht, die im Tanz nur zur erahnen ist. Er hebt die einkomponierte Polyphonie der Musik hervor, in dem er die Melodietöne dehnt, über die "Begleittöne" auch schon mal lässig hinweg spielt. Obwohl es sich um einen Tanzabend handelt, tritt die rhythmische Struktur in den langsamen Sätzen immer wieder zurück hinter die harmonische, bei der die Töne eines Akkords in der Regel (von Doppelgriffen abgesehen)nacheinander gespielt werden. Den Raum dieser ehemaligen Industriehalle füllt der große, lang nachklingende Ton beeindruckend aus. Gegen Ende scheint die Konzentration des Cellisten dann doch ein wenig abzufallen, da zeigen sich bei den (allerdings technisch extrem anspruchsvollen) letzten beiden Suiten ein paar Ungenauigkeiten. Dennoch ist das eine unbedingt hörenswerte Version dieses Mammutwerkes.
Ein eigentümliches Werk mit einer merkwürdigen Spannung aus gedanklichem Konstrukt und ergreifender Musik. Ein wenig mehr Emotion beim Tanz wäre da doch ganz schön.
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Produktionsteam
Choreographie
Kostüm
Licht
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