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Mensch, was sind wir alt gewordenvon Stefan Schmöe / Fotos © Walter Mair / Ruhrtriennale 2018
Diesen Theaterabend bringen Stefanie Carp und Christoph Marthaler, das Leitungsteam der Ruhrtriennale, dem Festival quasi als Morgengabe mit. Entstanden ist die Produktion bereits 2016 an der Volksbühne Berlin, mit Marthaler als Regisseur und Carp als Dramaturgin. Die ließ es sich nicht nehmen, bei dieser Übernahme ins Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ganz persönlich die (bei der Ruhrtriennale inzwischen fast obligatorische) Einführung zu geben, sehr persönlich und gespickt mit Anekdoten. Das ist in mancher Hinsicht allerdings auch notwendig, denn es handelt sich um ein ganz besonderes Stück: Es war Marthalers letzte Inszenierung an der Volksbühne Berlin, an der er während der Intendanz von Frank Castorf, der das Haus von 1992 - 2017 leitete, immer wieder gearbeitet hatte. Herausgekommen ist ein Abschiedsstück voller Querbezüge und Anspielungen, gespickt mit Zitaten aus früheren Arbeiten Marthalers und am Ende der Ära Castorf eben auch ein Stück über Volksbühnen- und andere Berliner Befindlichkeiten.
Das Notwendigste dazu kann man im Programmheft nachlesen, deutlich mehr erfährt man aus Stefanie Carps Einführung. Schwer zu sagen, welche Wirkung bleibt, wenn man ohne jede Vorinformationen in das Stück gerät. Wenn man nicht weiß, dass einige der Darsteller bereits bei Marthalers legendärem Stück Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! auf der Bühne standen, mit dem der weitgehend unbekannte Regisseur 1993 an eben der Berliner Volksbühne durchstartete und damit das "Marthaler-Theater" begründete: Magne Håvard Brekke, Olivia Grigolli und Ueli Jäggi (dazu Hildegard Alex, die nach einem Besetzungswechsel dazustieß) sind jetzt, 25 Jahre später, immer noch dabei. Wenn man nicht weiß, dass es Stühle aus Murx sind, die hier in Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter verwendet werden; dass Murx den Anfang, Bekannte Gefühle den Abschluss von 23 Jahren "Marthaler in Berlin" bildet. Und dass in der hitzigen Diskussion um die Nachfolge Castorfs der Eindruck blieb, mit dem Intendanten gehe auch ein ganz besonderes Lebensgefühl, wie es nur an der Volksbühne denkbar war. Was bleibt, wenn man diesen Kontext vollständig außer Acht lässt?
Aber erst einmal zum Aufbau des Abends: Man sieht einen der typischen, schmucklosen Räume von Anna Viebrock, ein leer geräumter Museumssaal (an den Wänden erkennt man noch, wo Bilder hingen). Ein Hausmeister (Marc Bodnar mit virtuoser Mimik und Gestik, die viel über den kunstfernen wie kunstsüchtigen Zustand dieser Welt verrät) trägt die Darsteller herum wie Kunstobjekte, verpackt in Kisten oder in Folie; er drapiert sie wie Ausstellungsgegenstände, und tanzt beglückt mit der Luftpolsterfolie herum, um selbst zum Künstler zu werden. Natürlich verselbstständigen sich die Gestalten, deren Kleidung irgendwann aus den letzten 30 bis 50 oder noch mehr Jahren sie als Anachronismen zeichnet. Künstler, die aussortiert, die wie Gegenstände verschoben werden - das hatte in Berlin anderen Biss als in der fernen Ruhrprovinz. Aber Marthalers große Kunst besteht eben gerade darin, in banalen kleinen Episoden, anfangs mit einem Hang zum subversiven Slapstick, dann mehr und mehr in leise Melancholie übergehend, über den ganz normalen Menschen, also über uns, zu erzählen. Über das Sichbehaupten in einer lebensfeindlichen Welt. Über die wundersame Egozentrik, über die man herzlich lachen kann, ohne jemanden auszulachen.
Text gibt es kaum; dafür aber Musik in oft absurden, gleichwohl zu Herzen gehenden Bearbeitungen. Schuberts das Sentimentale streifende Lied An die Musik auf ein Gedicht von Franz von Schober ("Du holde Kunst … hast mich in eine bessre Welt entrückt") als zartes Solo mit Klavier, bei dem das Ensemble plötzlich einstimmt und die Akkordrepetitionen der Begleitung übernimmt - das hinterfragt auf sehr spöttische, gleichzeitig geradezu flehende Art unser Verhältnis zur Kunst. In der Musik findet das Ensemble, ein Trupp unverbesserlicher Außenseiter, zur Einheit zusammen (und wie schon in Universe, incomplete ein paar Tage zuvor verblüfft, wie intonationsrein das Marthaler-Ensemble mehrstimmig singen kann). Eine kaum hörbare Version des Arbeiterliedes Brüder, zur Freiheit, zur Sonne erinnert an eine Aufbruchsstimmung, die längst Vergangenheit ist, und auch eine grotesk zerpflückte Version von Verdis Freiheitschor Va, pensiero aus Nabucco spielt auf die Vision sehr utopischen Glücks an.
Es ist die unvergleichliche Marthaler-Stimmung, die den Reiz des Abends ausmacht, diese Mischung aus Komik und leiser Trauer. Und hier ist vieles eine Frage des Alters. Der hünenhafte Ulrich Voß irrt im Habitus eines Greises über die Bühne, einen zerschlissenen Stuhl im Arm, ohne einen Platz zu finden. Jürg Kienberger ist zunächst mitsamt Spinett in Filzdecken verpackt wie ein Relikt aus uralten Zeiten. Die Jugend gibt es auch, vor allem in Gestalt der supercoolen Lilith Stangenberg, die sich als unnahbare Schönheit hinter der Sonnenbrille versteckt. Und Hildegard Alex singt als Gegenstück dazu, ganz die wie mit Patina besetzte Diva aus vergangenen Zeiten, "Ich weiß nicht, zu wem ich gehör'", das Friedrich Hollaender 1932 für Marlene Dietrich vertonte. Am Ende steht voll feiner Wehmut und immer noch mit einem Hauch von Parodie Des Baches Wiegenlied aus Schuberts Schöner Müllerin. "Wandrer, Du Müder, Du bist zu Haus", heißt es da, was angesichts des ausgeräumten Saales eine romantische Verklärung bleibt, die nicht eingelöst wird. Bis zuletzt weiß man nicht, ob man bei diesem wunderlichen Stück lachen oder weinen soll.
Auch wenn Marthalers Berliner Volksbühnenabschiedsstück nicht hundertprozentig kompatibel ist mit der Gelsenkirchener Ruhrtriennalenwirklichkeit, bietet es dem hiesigen Publikum doch eine schöne Gelegenheit, diesen berührenden Abend kennenzulernen.
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Produktionsteam
Regie
Musikalische Einstudierung
Bühne und Kostüme
Arrangements
Licht
Ton
Dramaturgie
Arrangements
Darsteller / PerformerHildegard AlexTora Augestad Marc Bodnar Magne-Håvard Brekke Raphael Clamer Bendix Dethleffsen Altea Garrido Olivia Grigolli Ueli Jäggi Jürg Kienberger Ulrich Voß Nikola Weisse Musik und Texte von J.S. Bach, L. van Beethoven, G. Ciofi / R. Cutolo, G. Cottrau, F. Glück / J. von Eichendorf, G.F. Händel, F. Hollaender / R. Liebmann, P. Lincke, M. Maeterlinck, G. Mahler / F. Nietzsche, T. Morley, W. A. Mozart / E. Schikaneder, D. Roth, E. Satie, W. Shakespeare, A. Schoenberg / A. Giraud, F. Schubert / F. von Schober, F. Schubert / W. Müller, A. Tschechow, K. Valentin, G. Verdi, Volksweise / H. Scherchen und R. Wagner weitere Berichte von der Ruhrtriennale 2018 - 2020 Homepage der Ruhrtriennale Die Ruhrtriennale in unserem Archiv |
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