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Vom Tod gezeichnetVon Thomas Molke / Fotos: © Xiomara Bender (TFE Presse)
Rodolfo (Long Long, links), Marcello (Tommaso
Barea, 2. von links), Schaunard (Liam James Karai, 2. von rechts) und Colline (Jasurbek
Khaydarov, rechts) wollen Benoît (Piotr Micinski, Mitte) um die Miete prellen.
Schon bei der Uraufführung 1896 war nur ein einziger Kritiker der Zeitschrift
La stampa der Meinung, dass die Geschichte über die Liebe und Leidenschaft
einfacher und armer Leute keinen großen Eindruck beim Publikum hinterlassen
werde. Alle anderen erkannten sofort das Potenzial, das in Puccinis Werk steckte
und dazu führte, dass die Oper schnell einen beispiellosen Siegeszug um die
ganze Welt antrat. Die Handlung basiert auf einem Fortsetzungsroman, in dem
Henri Murger von März 1845 bis April 1849 in der Zeitschrift Le Corsaire
Satan unter dem Titel Scènes de la bohème in einer lockeren Folge von
Erzählungen ein farbiges Bild des Pariser Künstlermilieus entwarf, dem er selbst
angehörte. Im November 1849 kam eine Bühnenversion unter dem Titel La vie de
bohème im Pariser Théâtre des Variétés heraus, die ebenfalls begeistert
aufgenommen wurde, so dass die 1851 überarbeitete Buchausgabe unter dem Titel
Scènes de la vie de bohème zu einem der populärsten Künstlerromane des 19.
Jahrhunderts avancierte. Auch Ruggero Leoncavallo zeigte sich von dem Stoff
fasziniert und ließ sich zu einer Oper inspirieren. Während sich Leoncavallo
jedoch eng an die literarische Vorlage hielt, betonten Puccinis Librettisten
eher die Atmosphäre als den Handlungsablauf. So konnte Leoncavallos Vertonung,
die ein Jahr nach Puccini in Venedig zur Uraufführung kam, den Erfolg von
Puccinis Meisterwerk niemals erreichen.
Erste Begegnung in der Mansarde: Mimì (Sara
Cortolezzis) und Rodolfo (Long Long)
Das Regie-Team um Bárbara Lluch findet einige interessante Neuansätze, die das
Stück in seiner Aussage allerdings keineswegs gegen den Strich bürsten. So wird
im Bühnenbild von Alfons Flores und den Videoprojektionen von Mar Flores Flo ein
wenig mit den Jahreszeiten gespielt. Während das erste Bild an einem kalten
Weihnachtsabend in der Mansarde der mittellosen Künstler Marcello und Rodolfo
spielt, bricht mit Auftritt Mimìs in diesem Zimmer in den Videoprojektionen
gewissermaßen der Frühling aus. Mit einer weißen aufblühenden Rose im
Hintergrund erscheint die junge Frau, und mit dem Aufkeimen der Liebe zwischen
Mimì und Rodolfo steigert sich die anfängliche Rose zu einer vollen Blumenwiese.
So kehrt Mimì, die schon zu Beginn der Oper vom Tod gezeichnet ist,
gewissermaßen noch einmal durch die Liebe zu Rodolfo ins Leben zurück. Während
die beiden im dritten Bild allerdings beschließen, sich erst im Frühling zu
trennen, herrscht im vierten Bild in der Mansarde mit schneebedecktem Boden
immer noch eiskalter Winter.
Ungewohnt ist auch, dass Mimì von Anfang an im ersten Bild auf der Bühne zu
sehen ist. Rechts neben der Mansarde befindet sich Mimìs Zimmer, in dem sie
krank - vielleicht sogar schon sterbend? - im Bett liegt. Dann beobachtet sie
das ausgelassene Spiel der vier mittellosen Künstler und scheint von ihnen
derart angezogen zu sein, dass sie noch einmal ins Leben zurückkehren möchte. So
schlüpft sie in ein wunderschönes blaues Kleid, in dem sie sich dann auf den Weg
zu Rodolfo macht, nachdem die Freunde bereits ins Quartier Latin vorausgegangen
sind. Die Personenregie macht hier mehr als deutlich, wie kokett Mimì ins Leben
zurückkehrt und Rodolfo verzaubert. Ein wenig irritierend sind hingegen die
zahlreichen jungen Mädchen im gleichen blauen Kleid mit der gleichen roten Haube
im Haar, denen Mimì im Café Momus begegnet und denen sie nachjagt. Sollen sie
Mimìs verlorene Jugend darstellen? Am Ende des zweiten Bildes tanzen sie mit
Mimì um den Tisch herum, während sich die anderen ins Weihnachtsgetümmel
stürzen.
Mimì (Sara Cortolezzis) ist zum Sterben zu
Rodolfo (Long Long) zurückgekehrt (im Schatten hinten links: Jasurbek Khaydarov
als Colline und Liam James Karai als Schaunard).
Im dritten Bild wird der Raum dann von Mimìs Krankenbett dominiert, der mit der
Tür zur Mansarde mitten im Nichts auf einer schneebedeckten Bühne steht. Der
Chor, der im zweiten Bild in bunten Kostümen gewissermaßen als Spielzeug von
Parpignol aufgetreten ist, singt hier nur aus dem Off. Vielleicht spielt sich
die ganze Szene nur in Mimìs Kopf ab. Die Begegnung mit Schaunard und später
Rodolfo ist aber real und geht in der Intensität unter die Haut. Interessant
ist, dass sich im abschließenden Quartett Musetta und Marcello nach ihrem
heftigen Streit wieder versöhnen und ebenso wie Mimì und Rodolfo gemeinsam die
Bühne verlassen. Im letzten Bild sind die Wände der Mansarde wieder aus dem
Schnürboden herabgelassen, Mimìs Bett steht nun ebenfalls in der Mansarde.
Hierhin kehrt sie dann zum Sterben zurück. Wieso Colline seinen Mantel nicht
verpfändet sondern ihn scheinbar den Flammen opfert, um in der schneebedeckten
Mansarde für etwas Wärme zu sorgen, bleibt genauso unklar wie die Tatsache,
wieso er nicht den alten Mantel vom Beginn des Stückes trägt, sondern einen
schwarz-weiß gestreiften Frack, der eher an einen Zirkusartisten erinnert. Mimìs
Sterbeszene geht in der intensiven Personenregie unter die Haut. Am Ende tritt
ein Mädchen in Mimìs blauem Kleid auf, und Mimì gesellt sich für das Schlussbild
in einen Lichtkegel zu ihr, bevor die Bühne komplett im Dunkel versinkt.
Neben dem intensiven Spiel der Darstellerinnen und Darsteller lässt die
Produktion auch musikalisch keine Wünsche offen. Sara Cortolezzis begeistert als
Mimì mit wunderbar leuchtendem Sopran, der die Verletzlichkeit der Figur
hervorhebt. Mit mädchenhafter Leichtigkeit präsentiert sie die berühmte Arie "Mi
chiamano Mimì", mit der sie endgültig Rodolfos Herz gewinnt. Long Long verfügt
als Rodolfo über einen kraftvollen Tenor, der in den Höhen zu strahlen versteht.
Scheinbar ohne jede Anstrengung schraubt er sich mit tenoralem Schmelz in
höchste Höhen empor und lässt bei seiner berühmten Arie "Che gelida manina"
sicherlich nicht nur Mimìs Herz höher schlagen. Im Duett "O soave fanciulla"
finden die beiden dann zu einer wunderbaren Innigkeit, die ihre Liebe in den
schönsten Farben ausmalt. Umso tragischer gelingt ihnen dann das dramatische
Duett "Addio... Che! Vai?" im dritten Bild, in dem sie nach der
zwischenzeitlichen Trennung beschließen, doch noch bis zum Frühling zusammen zu
bleiben.
Musetta (Victoria Randem, auf dem Tisch) in ihrem
Element (am Tisch von links: Marcello (Tommaso Barea), Schaunard (Liam James
Karai), Colline (Jasurbek Khaydarov, hinter Musetta), Rodolfo (Long Long) und
Mimì (Sara Cortolezzis))
Einen weiteren Glanzpunkt des Abends bilden Victoria Randem und Tommaso Barea
als Musetta und Marcello. Randem gelingt es, die verschiedenen Seiten der Figur
überzeugend herauszuarbeiten. In glitzerndem Anzug hat sie einen phänomenalen
Auftritt, wenn sie mit vollem Sopran ihre berühmte Arie "Quando me'n vo"
präsentiert und bei aller Oberflächlichkeit deutlich macht, dass sie im tiefsten
Innern starke Gefühle für Marcello hegt. Bei aller Flatterhaftigkeit erkennt man
ihre wahren Werte im letzten Bild, wenn sie die sterbende Mimì in die Mansarde
zurückbringt und beschließt, sich von ihrem Schmuck zu trennen, um Medizin für
Mimì zu besorgen und Mimìs letzten Wunsch nach einem Muff zu erfüllen. Dabei
lässt sie Mimì in dem Glauben, der Muff stamme von Rodolfo. Barea stattet den
Maler Marcello mit profundem Bassbariton aus und überzeugt als aggressiv
eifersüchtiger Liebhaber einerseits, der sich von der lebenslustigen Musetta
ständig provozieren lässt, und als einfühlsamer Freund andererseits, der sich
das karge Leben in der Mansardenwohnung mit Rodolfo und den anderen durch
manchen komischen Schabernack vertreibt, an dem Leid Mimìs jedoch genauso
verzweifelt wie Rodolfo.
Liam James Karai begeistert als Schaunard mit markantem Bassbariton und
komödiantischem Spiel. Jasurbek Khaydarov punktet als Philosoph Colline mit
sonorem Bass vor allem in seiner Mantel-Arie im letzten Bild. Piotr Micinski
setzt als Hausherr Benoît und als von Musetta ausgenutzter Staatsrat Alcindoro
vor allem komische Akzente. Der von Olga Yanum einstudierte Chor der Tiroler
Festspiele Erl begeistert durch große Spielfreude im zweiten Bild und homogenen
Klang. Asher Fisch erweist sich als Meister des Verismo am Pult des Orchesters
der Tiroler Festspiele Erl und taucht mit viel Fingerspitzengefühl und eruptiver
Kraft in Puccinis deskriptive Klangwelten ein, ohne dabei aus dem Graben die
Solistinnen und Solisten auf der Bühne zu überdecken. So gibt es für alle
Beteiligten zu Recht frenetischen Beifall.
FAZIT
Bárbara Lluch findet teilweise neue Ansätze zu einem Meisterwerk, ohne es dabei
gegen den Strich zu bürsten. Die musikalische Qualität begeistert auf ganzer
Linie.
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Tiroler Festspielen Winter 2024 |
ProduktionsteamMusikalische LeitungAsher Fisch Inszenierung Bühnenbild Kostüme Choreographie Licht Video Choreinstudierung Leitung Kinderchor
Orchester der Tiroler Festspiele Erl Chor der Tiroler Festspiele Erl
Kinderchor der Schule für
Solistinnen und SolistenMimì Rodolfo,
ein Dichter
Musetta Marcello,
ein Maler Schaunard, ein Musiker
Colline, ein Philosoph
Benoît, Hausherr / Alcindoro,
Staatsrat
Parpignol
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- Fine -