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Musikfestspiele
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Tiroler Festspiele Erl Winter

27.12.2024 - 06.01.2025


La Bohème

Oper in vier Bildern
Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa nach Henri Murger
Musik von Giacomo Puccini

In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h 20' (eine Pause)

Premiere im Festspielhaus am 27. Dezember 2024
(rezensierte Aufführung: 03.01.2025)

 

 

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Vom Tod gezeichnet

Von Thomas Molke / Fotos: © Xiomara Bender (TFE Presse)

Im Zentrum der ersten Tiroler Winterfestspiele in Erl unter der neuen Leitung von Jonas Kaufmann steht ein Komponist, zu dem Kaufmann in seiner langjährigen Karriere eine ganz besondere Beziehung gehabt hat: Giacomo Puccini. So hat Kaufmann nicht nur alle großen Tenorarien des berühmtesten Komponisten nach Verdi gesungen, sondern ihm auch mehrere Arienabende gewidmet, zuletzt mit einer Tournee anlässlich des 100. Todesjahres Puccinis (siehe auch unsere Rezension). In Erl steht nun in einer szenischen Neuproduktion das Werk auf dem Programm, das häufig als Puccinis Meisterwerk bezeichnet wird: La Bohème. Anders als Cecilia Bartoli, die bei den von ihr geleiteten Pfingstfestspielen in Salzburg in der Regel die weibliche Hauptpartie übernimmt, schlüpft Kaufmann allerdings nicht in die Rolle des Dichters Rodolfo, sondern hat es sich zur Aufgabe gemacht, Nachwuchstalenten, die auf dem Sprung zu einer Weltkarriere sind, das Feld zu überlassen, und ist, selbst als der ursprünglich für die Partie geplante Tenor Raúl Gutierrez aus Krankheitsgründen absagen musste, nicht in Versuchung geraten, selbst einzuspringen, sondern hat mit Long Long einen Interpreten gefunden, der mehr als nur ein würdiger Ersatz ist.

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Rodolfo (Long Long, links), Marcello (Tommaso Barea, 2. von links), Schaunard (Liam James Karai, 2. von rechts) und Colline (Jasurbek Khaydarov, rechts) wollen Benoît (Piotr Micinski, Mitte) um die Miete prellen.

Schon bei der Uraufführung 1896 war nur ein einziger Kritiker der Zeitschrift La stampa der Meinung, dass die Geschichte über die Liebe und Leidenschaft einfacher und armer Leute keinen großen Eindruck beim Publikum hinterlassen werde. Alle anderen erkannten sofort das Potenzial, das in Puccinis Werk steckte und dazu führte, dass die Oper schnell einen beispiellosen Siegeszug um die ganze Welt antrat. Die Handlung basiert auf einem Fortsetzungsroman, in dem Henri Murger von März 1845 bis April 1849 in der Zeitschrift Le Corsaire Satan unter dem Titel Scènes de la bohème in einer lockeren Folge von Erzählungen ein farbiges Bild des Pariser Künstlermilieus entwarf, dem er selbst angehörte. Im November 1849 kam eine Bühnenversion unter dem Titel La vie de bohème im Pariser Théâtre des Variétés heraus, die ebenfalls begeistert aufgenommen wurde, so dass die 1851 überarbeitete Buchausgabe unter dem Titel Scènes de la vie de bohème zu einem der populärsten Künstlerromane des 19. Jahrhunderts avancierte. Auch Ruggero Leoncavallo zeigte sich von dem Stoff fasziniert und ließ sich zu einer Oper inspirieren. Während sich Leoncavallo jedoch eng an die literarische Vorlage hielt, betonten Puccinis Librettisten eher die Atmosphäre als den Handlungsablauf. So konnte Leoncavallos Vertonung, die ein Jahr nach Puccini in Venedig zur Uraufführung kam, den Erfolg von Puccinis Meisterwerk niemals erreichen.

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Erste Begegnung in der Mansarde: Mimì (Sara Cortolezzis) und Rodolfo (Long Long)

Das Regie-Team um Bárbara Lluch findet einige interessante Neuansätze, die das Stück in seiner Aussage allerdings keineswegs gegen den Strich bürsten. So wird im Bühnenbild von Alfons Flores und den Videoprojektionen von Mar Flores Flo ein wenig mit den Jahreszeiten gespielt. Während das erste Bild an einem kalten Weihnachtsabend in der Mansarde der mittellosen Künstler Marcello und Rodolfo spielt, bricht mit Auftritt Mimìs in diesem Zimmer in den Videoprojektionen gewissermaßen der Frühling aus. Mit einer weißen aufblühenden Rose im Hintergrund erscheint die junge Frau, und mit dem Aufkeimen der Liebe zwischen Mimì und Rodolfo steigert sich die anfängliche Rose zu einer vollen Blumenwiese. So kehrt Mimì, die schon zu Beginn der Oper vom Tod gezeichnet ist, gewissermaßen noch einmal durch die Liebe zu Rodolfo ins Leben zurück. Während die beiden im dritten Bild allerdings beschließen, sich erst im Frühling zu trennen, herrscht im vierten Bild in der Mansarde mit schneebedecktem Boden immer noch eiskalter Winter.

Ungewohnt ist auch, dass Mimì von Anfang an im ersten Bild auf der Bühne zu sehen ist. Rechts neben der Mansarde befindet sich Mimìs Zimmer, in dem sie krank - vielleicht sogar schon sterbend? - im Bett liegt. Dann beobachtet sie das ausgelassene Spiel der vier mittellosen Künstler und scheint von ihnen derart angezogen zu sein, dass sie noch einmal ins Leben zurückkehren möchte. So schlüpft sie in ein wunderschönes blaues Kleid, in dem sie sich dann auf den Weg zu Rodolfo macht, nachdem die Freunde bereits ins Quartier Latin vorausgegangen sind. Die Personenregie macht hier mehr als deutlich, wie kokett Mimì ins Leben zurückkehrt und Rodolfo verzaubert. Ein wenig irritierend sind hingegen die zahlreichen jungen Mädchen im gleichen blauen Kleid mit der gleichen roten Haube im Haar, denen Mimì im Café Momus begegnet und denen sie nachjagt. Sollen sie Mimìs verlorene Jugend darstellen? Am Ende des zweiten Bildes tanzen sie mit Mimì um den Tisch herum, während sich die anderen ins Weihnachtsgetümmel stürzen.

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Mimì (Sara Cortolezzis) ist zum Sterben zu Rodolfo (Long Long) zurückgekehrt (im Schatten hinten links: Jasurbek Khaydarov als Colline und Liam James Karai als Schaunard).

Im dritten Bild wird der Raum dann von Mimìs Krankenbett dominiert, der mit der Tür zur Mansarde mitten im Nichts auf einer schneebedeckten Bühne steht. Der Chor, der im zweiten Bild in bunten Kostümen gewissermaßen als Spielzeug von Parpignol aufgetreten ist, singt hier nur aus dem Off. Vielleicht spielt sich die ganze Szene nur in Mimìs Kopf ab. Die Begegnung mit Schaunard und später Rodolfo ist aber real und geht in der Intensität unter die Haut. Interessant ist, dass sich im abschließenden Quartett Musetta und Marcello nach ihrem heftigen Streit wieder versöhnen und ebenso wie Mimì und Rodolfo gemeinsam die Bühne verlassen. Im letzten Bild sind die Wände der Mansarde wieder aus dem Schnürboden herabgelassen, Mimìs Bett steht nun ebenfalls in der Mansarde. Hierhin kehrt sie dann zum Sterben zurück. Wieso Colline seinen Mantel nicht verpfändet sondern ihn scheinbar den Flammen opfert, um in der schneebedeckten Mansarde für etwas Wärme zu sorgen, bleibt genauso unklar wie die Tatsache, wieso er nicht den alten Mantel vom Beginn des Stückes trägt, sondern einen schwarz-weiß gestreiften Frack, der eher an einen Zirkusartisten erinnert. Mimìs Sterbeszene geht in der intensiven Personenregie unter die Haut. Am Ende tritt ein Mädchen in Mimìs blauem Kleid auf, und Mimì gesellt sich für das Schlussbild in einen Lichtkegel zu ihr, bevor die Bühne komplett im Dunkel versinkt.

Neben dem intensiven Spiel der Darstellerinnen und Darsteller lässt die Produktion auch musikalisch keine Wünsche offen. Sara Cortolezzis begeistert als Mimì mit wunderbar leuchtendem Sopran, der die Verletzlichkeit der Figur hervorhebt. Mit mädchenhafter Leichtigkeit präsentiert sie die berühmte Arie "Mi chiamano Mimì", mit der sie endgültig Rodolfos Herz gewinnt. Long Long verfügt als Rodolfo über einen kraftvollen Tenor, der in den Höhen zu strahlen versteht. Scheinbar ohne jede Anstrengung schraubt er sich mit tenoralem Schmelz in höchste Höhen empor und lässt bei seiner berühmten Arie "Che gelida manina" sicherlich nicht nur Mimìs Herz höher schlagen. Im Duett "O soave fanciulla" finden die beiden dann zu einer wunderbaren Innigkeit, die ihre Liebe in den schönsten Farben ausmalt. Umso tragischer gelingt ihnen dann das dramatische Duett "Addio... Che! Vai?" im dritten Bild, in dem sie nach der zwischenzeitlichen Trennung beschließen, doch noch bis zum Frühling zusammen zu bleiben.

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Musetta (Victoria Randem, auf dem Tisch) in ihrem Element (am Tisch von links: Marcello (Tommaso Barea), Schaunard (Liam James Karai), Colline (Jasurbek Khaydarov, hinter Musetta), Rodolfo (Long Long) und Mimì (Sara Cortolezzis))

Einen weiteren Glanzpunkt des Abends bilden Victoria Randem und Tommaso Barea als Musetta und Marcello. Randem gelingt es, die verschiedenen Seiten der Figur überzeugend herauszuarbeiten. In glitzerndem Anzug hat sie einen phänomenalen Auftritt, wenn sie mit vollem Sopran ihre berühmte Arie "Quando me'n vo" präsentiert und bei aller Oberflächlichkeit deutlich macht, dass sie im tiefsten Innern starke Gefühle für Marcello hegt. Bei aller Flatterhaftigkeit erkennt man ihre wahren Werte im letzten Bild, wenn sie die sterbende Mimì in die Mansarde zurückbringt und beschließt, sich von ihrem Schmuck zu trennen, um Medizin für Mimì zu besorgen und Mimìs letzten Wunsch nach einem Muff zu erfüllen. Dabei lässt sie Mimì in dem Glauben, der Muff stamme von Rodolfo. Barea stattet den Maler Marcello mit profundem Bassbariton aus und überzeugt als aggressiv eifersüchtiger Liebhaber einerseits, der sich von der lebenslustigen Musetta ständig provozieren lässt, und als einfühlsamer Freund andererseits, der sich das karge Leben in der Mansardenwohnung mit Rodolfo und den anderen durch manchen komischen Schabernack vertreibt, an dem Leid Mimìs jedoch genauso verzweifelt wie Rodolfo.

Liam James Karai begeistert als Schaunard mit markantem Bassbariton und komödiantischem Spiel. Jasurbek Khaydarov punktet als Philosoph Colline mit sonorem Bass vor allem in seiner Mantel-Arie im letzten Bild. Piotr Micinski setzt als Hausherr Benoît und als von Musetta ausgenutzter Staatsrat Alcindoro vor allem komische Akzente. Der von Olga Yanum einstudierte Chor der Tiroler Festspiele Erl begeistert durch große Spielfreude im zweiten Bild und homogenen Klang. Asher Fisch erweist sich als Meister des Verismo am Pult des Orchesters der Tiroler Festspiele Erl und taucht mit viel Fingerspitzengefühl und eruptiver Kraft in Puccinis deskriptive Klangwelten ein, ohne dabei aus dem Graben die Solistinnen und Solisten auf der Bühne zu überdecken. So gibt es für alle Beteiligten zu Recht frenetischen Beifall.

FAZIT

Bárbara Lluch findet teilweise neue Ansätze zu einem Meisterwerk, ohne es dabei gegen den Strich zu bürsten. Die musikalische Qualität begeistert auf ganzer Linie.

Weitere Rezensionen zu den Tiroler Festspielen Winter 2024



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Asher Fisch

Inszenierung
Bárbara Lluch

Bühnenbild
Alfons Flores

Kostüme
Clara Peluffo Valentini

Choreographie
Mercè Grané Ciudad

Licht
Urs Schönebaum

Video
Mar Flores Flo

Choreinstudierung
Olga Yanum

Leitung Kinderchor
Maksim Matsiushenkau

 

Orchester der Tiroler Festspiele Erl

Chor der Tiroler Festspiele Erl

Kinderchor der Schule für
Chorkunst München


Solistinnen und Solisten

Mimì
Sara Cortolezzis

Rodolfo, ein Dichter
Long Long

Musetta
Victoria Randem

Marcello, ein Maler
Tommaso Barea

Schaunard, ein Musiker
Liam James Karai

Colline, ein Philosoph
Jasurbek Khaydarov

Benoît, Hausherr / Alcindoro, Staatsrat
Piotr Micinski

Parpignol
Peter Kirk

 


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