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Leonore 40/45

Opera semiseria in einem Vorspiel und sieben Bildern (zwei Akten)
Libretto von Heinrich Strobel
Musik von Rolf Liebermann


in deutscher und französischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Bonn am 10. Oktober 2021
(rezensierte Aufführung: 17. Oktober 2021)


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Theater Bonn
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Der Circus Hitler ist mit unbekanntem Ziel abgereist

Von Stefan Schmöe / Fotos von Thilo Beu

Es kommt bekanntlich vor, dass eine neue Oper beim Publikum durchfällt. Leonore 40/45 scheint aber ein ganz besonderer Fall zu sein. Glaubt man Ulrich Schreiber und seinem Opernführer für Fortgeschrittene (2005), dann kam es "in Deutschland bei allen (!) Aufführungen zu Publikumsaufständen". Immerhin bezieht sich Schreiber hier auf Folgeaufführungen in Berlin und Heidelberg (im Uraufführungsjahr 1952) sowie Oldenburg (1959). Zum ersten Mal (ganz erfolgreich) in Basel gespielt und mit wohlwollenden Kritiken bedacht (die man im sehr informativen Programmbuch dieser Bonner Aufführung nachlesen kann), wurde das Werk also durchaus nachgespielt, sogar an der Mailänder Scala (dort nach Liebermanns Erinnerungen mit "eisiger Stille" statt Applaus als Reaktion). Nach der Oldenburger Produktion verschwand die Leonore 1959 offenbar komplett aus den Spielplänen. Und das, obwohl Schreiber von "einem der intelligentesten und beschwingtesten Werke der deutschen Oper nach 1945" spricht.

Vergrößerung in neuem Fenster Unterrschiedliche und doch parallele Befindlichkeiten im Vorspiel: Links hören Albert und sein Vater in Deutschland den Befehl zur Generalmobilmachung, rechts Yvette und ihre Mutter in Frankreich.

Die Bonner Neuproduktion läuft unter dem Schutzmantel des Projekts Fokus ´33 - Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben. Kurz zuvor konnte Marco Arturo Marelli mit einer stringent auf die Gefühlslage der Hauptfiguren fokussierten Inszenierung von Richard Strauss` Arabella plausibel machen, warum sich das unzeitgemäße Werk in den Spielplänen gehalten hat: Weil jenseits mancher textlichen Entgleisungen eine im Kern berührende Geschichte durch die an die großen Gefühle appellierende Musik ein utopisches, dadurch zeitloses Moment bekommt. Leonore 40/45 bildet in mehrfacher Hinsicht einen Gegenentwurf. Zwar verweist der Titel auf Beethovens Fidelio und kratzt damit an der pathosgesättigten deutschen Musiktradition, aber das Libretto von Heinrich Strobel (der als Leiter der Musikabteilung des neu gegründeten Südwestfunks zu einem der entscheidenden Förderer neuer Musik in Deutschland gehörte) gibt sich despektierlich ironisch. Die Geschichte ist denkbar einfach: 1940 verlieben sich im besetzten Paris die junge Französin Yvette und der deutsche Soldat Albert, müssen sich nach dem Abzug der deutschen Besatzer trennen und finden nach Kriegsende gegen alle Widerstände wieder zusammen. Dafür stellt Strobel ihnen allerdings einen Schutzengel aus dem Geiste des Wiener Maschinentheaters zur Seite, der gleichzeitig wie ein Conférencier durch das varietéartige Spiel in sieben kurzen Bildern leitet. Höhere Mächte sind nötig, wo der gesunde Menschenverstand und ein wenig Humanität doch ausreichen sollten. Das mochte in der Schweiz bei der Uraufführung noch verstanden werden; im Nachkriegsdeutschland war die Zeit für einen solchen Stoff offenbar noch nicht gekommen, jedenfalls bei den Teilen des Publikums, die sich durchsetzten.

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Monsieur Emile, der Schutzengel der Liebenden

Komponist Rolf Liebermann (1910 - 1999) wollte die Gattung Oper durchaus revolutionieren - vor allem durch zeitgemäße Sujets. Für ein weltoffenes und europafreundliches Publikum heute hat der zeitgebundene Stoff daher historischen, beinahe schon musealen Charakter. Regisseur Jürgen R. Weber bemüht sich nach Kräften, der Oper wenigstens einen Hauch an provokativem Potential abzugewinnen, indem er leitmotivisch den Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich als "Circus Hitler" verkauft, den Nazi-Terror also verspottet. Das reicht allerdings bestenfalls zu einem leichten Unbehagen. In einem Bilderrahmen schräg über der Bühne sieht man immer wieder Video-Animationen, die sich ästhetisch an Terry Gilliams Trickfilm-Collagen aus Monty Python´s Flying Circus orientieren, die aber plötzlich durch Kriegsfotos überblendet werden (Video: Gretchen fan Weber). Auf der Bühne wechseln Szenen wie aus dem Kasperletheater (dabei treten auch Café und Croissant, verkörpert durch Statisten, ganz leibhaftig auf) mit naturalistisch erzählten Passagen ab. Diverse Beethoven-Widergänger in Uniform stehen für die deutsche Nation, die Marianne aus Delacroix´ Gemälde Die Freiheit führt das Volk symbolisiert (ebenfalls in mehreren Ausführungen) die französische Seite. Geige und Klarinette werden kurzerhand zu Stich- und Schusswaffen (Ausstattung: Hank Irwin Kittel). Komödie und Drama sind eng und durchaus beziehungsreich verzahnt.

Vergrößerung in neuem Fenster Liebe im Kriegsmodus: Hitler und Churchill bestimmen über das Schicksal von Albert und Yvette

Viel Theaterzauber, den Weber aufbietet, sehr unterhaltsam über die zwei Stunden Spieldauer (mit Pause) hinweg, und trotzdem schimmert der pädagogische Anspruch der Oper deutlich durch. Dabei ist Leonore 40/45 keineswegs ein Diskursstück, dazu sind die Figuren zu holzschnittartig gezeichnet. Die Frage, wo eine erotische Beziehung über Freund-Fein-Linien hinweg zur Kollaboration wird, ist in der Tat komplexer, als der wohlmeinende und unpolitische, weil das individuelle Schicksal über alles andere setzende Ansatz Strobels und Liebermanns glauben machen will. Liebermanns Musik versucht durchaus mit Erfolg den Spagat, Zwölftönigkeit mit einem gut konsumierbaren Parlandoton zu verbinden, greift dabei klassische Formelemente auf, ist meist kammermusikalisch transparent, baut jede Menge Zitate ein. Hindemith, Strawinsky, Paul Dessau sind Bezugsgrößen. Das ist tatsächlich geistreich und wendet sich an ein gebildetes Publikum, und anders als der (von Strobel geförderte) junge Pierre Boulez will Liebermann keine Opernhäuser in die Luft sprengen, sondern vom Opernpublikum verstanden werden (als Intendant in Hamburg und Paris brachte er später freilich etliche wichtige Uraufführungen auf den Weg). Die Musik verweigert sich dem großen Gefühl, appelliert an den Musikverstand und hält immer eine Distanz zum Stoff. Das reicht aus heutiger Sicht dazu, wohlwollend abgenickt zu werden, zumal die Botschaft ja herzensgut ist. Aber eine echte Liebesbeziehung zwischen Publikum und dieser Leonore 40/45 wird wohl nicht daraus.

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Der Schutzengel muss es richten und schließt Yvette in die Arme. Hinten versöhnen sich Beethoven und Marianne.

Dabei spielt das Beethoven Orchester (auf der Seitenbühne, ab und zu wird mal ein Bild eingeblendet) unter der Leitung von Daniel Johannes Mayr ausgesprochen souverän und in guter Balance zwischen angemessener Sachlichkeit und theatralischem Effekt, und Joachim Goltz singt und spielt den Monsieur Emile, den rettenden Engel, mit einer hinreißenden Mischung aus Gemütlichkeit und gequältem Missmut, dazu mit klangprächtigem, vollem Bariton. Barbara Senator gibt die Yvette mit schönem und intensiv geführten lyrischen Sopran. Dagegen bleibt Santiago Sánchez als Albert mit recht leichtem Tenor ziemlich blass, was aber durchaus der Rolle entspricht - schließlich ist es die Frau, die gleich Beethovens Leonore als treibende Kraft in den Kriegsjahren 1940 und 1945 die Vereinigung der beiden herbeiführt. Unter den Nebenrollen ragen Susanne Blattert als Yvettes Mutter und Martin Tzonev als Instrumentenbauer Lejeune (bei dem Albert nach Kriegsende eine Anstellung findet) heraus.


FAZIT

1952 kam diese Leonore 40/45 wohl für das Publikum zu früh auf die Bühne, und als es nicht mehr zu früh war, da war es bereits zu spät für das recht konstruiert wirkende Werk. Die verspielt bildmächtige Regie und die ausgezeichnete musikalische Umsetzung in Bonn zeigen immerhin an, dass es die Oper zwar sicher nicht ins erweiterte Kernrepertoire schaffen wird, aber in der reichhaltigen deutschen Theaterlandschaft als Abwechslung zum Gewohnten gelegentliche Aufführungen verdient hätte.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Daniel Johannes Mayr

Inszenierung, Bühne, Licht
Jürgen R. Weber

Ausstattung
Hank Irwin Kittel

Licht
Friedel Grass

Video
Gretchen fan Weber

Chor
Marco Medved

Dramaturgie
Andreas K. W. Meyer


Statisterie des
Theater Bonn

Chor des Theater Bonn

Beethoven Orchester Bonn


Solisten

Yvette
Barbara Senator

Germaine, ihre Mutter /
Eine weißhaarige Melomanin
Susanne Blattert

Albert
Santiago Sánchez

Hermann, sein Vater
Pavel Kudinov

Lejeune
Martin Tzonev

Monsieur Emile
Joachim Goltz

Eine junge Massenet-Schwärmerin /
La Patronne
Katrin Stösel

Ein Soldat
Christian Specht

Der 1. Präsident des Tribunals
Jeongmyeong Lee

Der 2. Präsident des Tribunals /
Ein alter Melomane /
Ein gebildeter Herr u.a.
Michael Krinner

Ein Kellner /
Ein Zeitungsverkäufer /
Ein Richter
Takahiro Namiki

Erster Gefangener
Justo Rodriguez

Zweiter Gefangener
Enrico Döring



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