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Wahn, überall Wahn Von Joachim Lange / Fotos von Anna Kolata und Federico Pedrotti Die Pandemie hat nicht nur die Planungen an den Opernhäusern ziemlich durcheinander gewirbelt und allen eine neue Art von Flexibilität aufgezwungen. Den Händelfestspielen in Göttingen hat sie vor zwei Jahren ihr groß mit der Aufführung aller Händeolpern geplantes Hundertjähriges vermasselt. Auch in Halle sind zwei Jahrgänge faktisch ausgefallen. In diesem Jahr reklamieren die Festspiele in Georg Friedrich Händels Geburtsstadt ihr Hundertjähriges für sich. Diese Festspiele haben (neben Göttingen und den später hinzugekommenen, kleineren Festspielen in Karlsruhe) für die Händel Renaissance eine zentrale Bedeutung. Waren doch nach dem Tod des Barockmeisters 1759 seine Opern (nicht seine Oratorien!) bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von den Bühnen gänzlich verschwunden. In seiner Geburtsstadt gab es erst 1922 mit „Orlando“ die erste Wiederaufführung einer Händel-Oper. Klar, dass genau dieses Werk 2022 als Beitrag des Opernhauses der Stadt wieder auf die Bühne kommt und neu befragt wird. Hundert heißt allerdings nicht, dass es bereits einhundert Festspiele gegeben hätte. Dieses Jubiläum lässt noch etwas auf sich warten. Einige Male führten noch schlimmere Katastrophen als die Pandemie zu festspielfreien Jahren. Im Haus von Orlando (Xavier Sabata) tröstet man sich auch schon einmal zu dritt. Aber sei’s drum: die Hallenser veranstalten seit Jahrzehnten die größten Händelfestspiele und haben so immer zwei Werke ihres berühmtesten Sohnes im Repertoire. Das war auch zu DDR-Zeiten immer international ausgerichtet, sowohl, was die Akteure, als auch was das Publikum betraf. Aktuell stammen sogar beide heimischen Opernproduktion (auch die schon fürs vorige Jahre geplante Brockes-Passion) vom neuen regieführenden Intendanten Walter Sutcliffe. Bei Händelfreunden hatte sich der Brite 2019 in Göttingen mit einem hinreißend opulenten Rodrigo einen Namen als Regisseur mit dem gewissen Feeling für Händel gemacht. Jetzt war eher szenische Phantasie für die anvisierte Übertragung des 1733 uraufgeführten Gefühlskammerspiels „Orlando“ in die Gegenwart gefordert. Die Zauber- und Ritteroper bietet sich allerdings auch dazu an, auch dunklen Obsessionen in der Wer-liebt-Wen-Konstellation nachzuspüren. Sowohl bei den Liebenden (Orlando liebt Angelica, die liebt aber Medoro), als auch bei den Enttäuschten (Angelica weiß, dass sie Orlando verletzt, Dorinda wiederum, dass sie bei ihm keine Chancen hat). Angelica (Franziska Krötenheerdt) bevorzugt den Mann mit weiblichen Zügen. Sutcliffe und sein Ausstatter Gideon Davey verlegen das Ganze in ein schickes, zweietagiges Loft für einen Single-Macho von heute, der sich von einem Zoroastro (Ki-Hyun Park mit geschmeidiger Basswucht) coachen lässt. Der wechselt als innere Stimme der Überforderung des Mannes von heute (im Flachbildschirm), zur realen Person (plötzlich hinter der beiseite geschobenen Wand). Orlando will eigentlich Erfolg und Liebe, soll aber danach vor allem der knallharte Ritter im Kampf mit der Wirklichkeit sein. Wenn Zoroastro ihn zu dieser „ritterlichen“ Männlichkeit auffordert, erinnert das für einen Moment an Diskussionen über männliche Tugenden, wie sie heute plötzlich wieder auftauchen. Aber dieser Bezug ist mehr ein Zufall, den man auch übersehen könnte. Orlandos angehimmelter Angelica (mit beispielhaften Piani!: Franziska Krötenheerdt) haben es aber auch die offen zur Schau getragenen „weiblichen Seiten“ des Gegentyps Medoros angetan. Die Mezzosopranistin Yulia Sokolik macht das mit selbstbewusstem Changieren zwischen Mehrtgabebart-Verführer-Lächeln und Highheels. Wenn sie, bzw. er, gemeinsam mit Angelica die Putzfrau Dorinda (flott und selbstbewusst: Vanessa Waldhart) trösten wollen und sich ein Dreier in Orlandos Schlafzimmer abzeichnet, trägt dieser Medoro eben einen BH unterm Hemd. Und man wundert sich nicht. Orlandos (Xavier Sabata) Loft ist unterkellert - seine Obsessionen sind es auch. Eher schon über die extensiv (und perfekt) zur Schau gestellten Klischees einer alle Register ziehenden, offensiven Weiblichkeit. Selbst wenn sich am Ende, sozusagen politisch korrekt, alles als eine Männerphantasie herausstellt, bleibt deren (wenn auch perfekte und ästhetische) Dauerpräsentation eine heutzutage irritierende Überdosis. Die in die Perversion tendierenden Obsessionen Orlandos gingen so weit, dass der zurückgewiesene Mann beiden Frauen in den Keller verfrachtete, sie filmte und schließlich zum Killer wurde. Doch keine Angst: er hat es nicht wirklich gemacht. Es stellt sich alles als eine Wahnvorstellung heraus. Das Drehbühnenloft hat nicht nur ein hochfahrendes Kellergeschoss, sondern auch eine Rückseite, auf der ein angekippter Riesenspiegel die narzistische Selfiegesellschaft von heute effektvoll auf den Punkt bringt. Zum lieto fine, bei dem sie alle höchst lebendig wieder vereint sind, wird der Grill angeworfen und auf Toleranz gemacht. Wenn dann aber Orlando in einem unbemerkten Moment für einen Augenblick mit einem Messer spielt, dann weiß man schon wieder nicht so genau, wo die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit tatsächlich verläuft. Die finstere Seite Orlandos Xavier Sabata) ist zum Mord bereit. Kurzum: die Inszenierungsidee und ihre Umsetzung funktionieren alles in allem, der Raum dazu passt. Die Protagonisten kommen bei vollem Körpereinsatz durchweg gut durch Händels Arienwunderland. Im Graben des mit seinen historischen Instrumenten vertrauten Händelfestspielorchesters setzt Christian Cornyn vor allem auf geschmeidigen Wohlklang mit eher breiten Tempi. Der Vorliebe für das Beinahe-Anhalten der Zeit, das Händel so meisterlich beherrscht, hätte freilich die Einbettung in gelegentlichen Furor gut vertragen. Selbst die wenigen Bravour-Arien, mit denen sich vor allem der Titelheld ins Zeug legen kann, kommen beim katalanischen Countertenor (und einzigen Gast) Xavier Sabata zwar mit wohlklingendem Timbre aber doch etwas schaumgebremst über die Rampe. Hier muss sich Halle schon an der selbst in der Vergangenheit etwas höher gelegten Latte messen lassen. Das Premierenpublikum hielt freilich nichts von seiner Begeisterung ab. FAZIT Die Inszenierung von Walter Sutcliffe versetzt die Handlung von Orlando in die Gegenwart und geht im Prinzip auf. In ihrer ästhetischen Radikalität hat sie auch irritierende Elemente. Für die musikalische Seite der Produktion sorgen das Händelfestspielorchester und vor allem die hauseigenen Protagonistinnen. Weitere Rezensionen zu den Händel-Festspielen 2022 in Halle Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühnenbild und Kostüme
Licht
Regieassistenz
Dramaturgie
Händelfestspielorchester Halle
Solisten
Orlando
Angelica
Medoro
Dorinda Zoroastro Ki-Hyun Park
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