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Verschiedene Handschriften des Begehrens Von Thomas Molke / Fotos: © Ursula Kaufmann, Evangelos Rodoulis, Uwe Stratmann
Im August 2022 hat Boris Charmatz die Leitung des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch übernommen, um gemeinsam mit dem Tanztheater Wuppertal und dem im Januar 2019 gegründeten "Terrain" in einem deutsch-französischen künstlerischen Projekt zur Weiterentwicklung seiner eigenen choreographischen Arbeit sowie zur Pflege des Repertoires von Pina Bausch beizutragen. Nachdem er zu Beginn der Spielzeit im Mariendom in Velbert-Neviges sein erstes Stück mit dem Ensemble, Liberté Cathédrale, vorgestellt hat (siehe auch unsere Rezension), fügt er nun eine legendäre Produktion von Pina Bausch mit zwei von seinen frühen Werken in einem Tanzabend unter dem Titel Club Amour zusammen. Da bei seinen eigenen beiden Choreographien allerdings weniger Publikum zugelassen werden kann als bei Café Müller - die Zuschauerinnen und Zuschauer befinden sich hierbei nämlich mit den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne -, hat man eine ungewöhnliche Form für den Theaterabend gewählt. Die beiden Choreographien von Charmatz werden zweimal gespielt, einmal vor Café Müller und einmal danach. So sieht der eine Teil des Publikums Charmatz' Choreographien ab 18.30 Uhr vorher, während der andere Teil mit Café Müller um 20.00 Uhr startet und anschließend Charmatz' Choreographien auf der Bühne erlebt. Im Programmheft erläutert Charmatz kurz, was ihn veranlasst hat, diese doch sehr kontrastreichen Stücke unter dem Titel Club Amour zu einem Abend zusammenzufügen. Es gehe ihm darum, einen unterschiedlichen Blick auf die Liebe und das Begehren zu werfen, die in allen Teilen im Zentrum stünden. Ob das an diesem Abend gelingt, kann jeder für sich selbst entscheiden. Kontrastreich ist der Abend allemal. Hat schon Café Müller bei der Uraufführung am 20. Mai 1978 polarisiert, dürften Charmatz' Choreographien, die 1996 bzw. 1997 erstmals zu erleben waren, das Publikum noch mehr irritiert haben. Dabei dürften weniger die abstrakten Bewegungen für Unverständnis gesorgt haben als vielmehr die Tatsache, dass größtenteils nackt getanzt wird. Man fragt sich zumindest bei Aatt enen tionon: Warum? Aber das ist nicht die einzige Frage, die diese Kreation aufwirft. Aatt enen tionon: oben: Olga Dukhovnaya, Mitte: Némo Flouret, unten: Christopher Tandy (© Evangelos Rodoulis) Schon beim Titel fragt man sich, was er eigentlich bedeuten soll oder ob sich dahinter etwas verbirgt. Wenn das Publikum durch den Seiteneingang auf die Bühne geführt wird, sieht man in der Mitte der Bühne ein Gerüst in drei Ebenen. Auf den beiden unteren Ebenen befindet sich jeweils ein Tänzer, auf der obersten Ebene eine Tänzerin, die zu elektronischen Klängen Dehnübungen auf der jeweiligen Ebene machen. Um das Gerüst herum befinden sich drei riesige weiße Lichtkugeln in unterschiedlicher Höhe. Das Publikum verteilt sich auf der Bühne um das Geschehen herum. Wer nicht stehen möchte, kann sich auf den Boden setzen. Für einige wenige Menschen werden auch Hocker zur Verfügung gestellt. Der Übergang zum Beginn des Stückes ist dann relativ fließend. Die Musik stoppt, und die beiden Tänzer und die Tänzerin ziehen ihre Trainingshose aus. Warum sie für die folgenden akrobatischen Bewegungen nicht wenigstens den Slip anlassen können, erschließt sich nicht. Mit einem ausgestreckten Arm suchen sie Kontakt zur anderen Ebene, kommen aus ihrer Isolation aber nicht heraus. Häufig fallen sie auf den Boden und man erschaudert regelrecht, weil man zum einen das Gefühl hat, dass es auf dem harten Boden sicherlich schmerzhaft ist, zum anderen, weil man zumindest in den oberen Ebenen die Angst hat, der Boden könnte nachgeben. Nach ca. 15 Minuten ertönt ein lang anhaltender dumpfer "A"-Ton. Die beiden Tänzer und die Tänzerin scheinen dazu zu erstarren. Erst langsam lösen sie sich wieder und begeben sich in eine nicht enden wollende Trance. Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit gibt die Tänzerin Laute von sich, die anschließend von einem erneuten dumpfen "A" vom Band übertönt werden. Nach knappen 40 Minuten ist das Stück vorbei. Wenigstens zum Schlussapplaus ziehen sich die Tänzerin und die beiden Tänzer wieder an. Duo: Johanna Elisa Lemke und Boris Charmatz (© Ursula Kaufmann) Nachdem das Gerüst und die Leuchtkugeln von der Bühne entfernt worden sind, schließt sich Duo an. Hierbei handelt es sich um einen Auszug aus Charmatz' Choreographie herses, die am 27. September 1997 in Brest uraufgeführt worden ist. Wie bei der Uraufführung tritt Charmatz hier selbst als Tänzer auf. Mit Johanna Elisa Lemke als Gast betritt er durch die umherstehenden Zuschauerrinnen und Zuschauer die Bühne. Beide sind komplett nackt, was ihnen eine gewisse Verletzlichkeit gibt. Im weiteren Verlauf versuchen sie, Halt aneinander zu finden, nehmen immer wieder neue Stellungen ein, um eine Einheit gegen die äußere Welt zu bilden. Das ist intensiv, und hierbei ist die Nacktheit im Gegensatz zum vorherigen Stück durchaus nachvollziehbar. Ob man es mag, ist eine andere Frage. Café Müller: von links: Reginald Lefebvre, Emily Castelli und Milan Nowoitnick Kampfer (© Uwe Stratmann) Nach diesen beiden Stücken nimmt man nahezu entspannt im Saal des Opernhauses Platz, um nun ein Stück im "klassischen" Sinne zu erleben, auch wenn man vielleicht schmunzeln mag, dass ein Stück wie Café Müller heute als Klassiker des Tanztheaters zählt. Ursprünglich wurden unter dem Titel vier selbstständige Kreationen zusammengefasst, die alle in einem Caféhaus spielten, in dem Dunkel und Isolation herrschen. Erst Jahre später wurde die Choreographie von Pina Bausch mit ihrem drei Jahre zuvor kreierten Frühlingsopfer zusammengeführt. Bei der Uraufführung tanzte Bausch selbst in ihrer Kreation einen wichtigen Part, weshalb dieses Werk heute noch ganz besonders mit ihr verbunden wird. Zu wehmütigen Arien von Henry Purcell irren insgesamt sechs Personen durch ein ansonsten leeres Café, in dem zahlreiche Tische und Stühle stehen. Im Hintergrund befindet sich eine gläserne Drehtür. Tsai-Wei Tien tippelt auf hochhackigen Schuhen in einem dunklen Mantel mit einer roten Perücke zunächst durch diese Drehtür in den Raum und läuft hilflos umher, bevor sie den Raum wieder verlässt. Zuvor erscheint Naomi Brito in einem weißen langen Gewand und ist tief in ihre Gefühlswelt versunken. Auch Emily Castelli ist bemüht, mit geschlossenen Augen ihren Weg in dem Chaos von Stühlen und Tischen zu finden. Milan Nowoitnick Kampfer versucht die ganze Zeit, Castelli die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Die Unfähigkeit zu einer Beziehung wird wie in zahlreichen Bausch-Stücken thematisiert. Immer wieder versucht Castelli verzweifelt, an Nowoitnick Kampfer Halt zu finden, und klammert sich an ihn, nachdem das beidseitige Umherirren sie zusammengeführt hat. Doch Reginald Lefebvre stört ihre Zweisamkeit und ordnet ihre Haltungen immer wieder neu. Er legt Castelli auf Nowoitnick Kampfers Arme, wobei dieser sie aber stets nach einem kurzen Moment wieder fallen lässt. Castelli erhebt sich und begibt sich wieder in die klammernde Ausgangsposition, die dann von Lefebvre korrigiert wird, bis Castelli und Nowoitnick Kampfer schließlich selbst diesen Bewegungsablauf durchführen. Dabei verbreitet die klagende Musik von Henry Purcell eine sehr traurige Stimmung. Hoffnung gibt dann der Schluss, wenn Tien ihren Mantel der einsam umherirrenden Brito umlegt und ihr auch die Perücke aufsetzt. So empfindet man einen kleinen Moment der Wärme und des menschlichen Miteinanders, was die Tänzerinnen und Tänzer in allen drei Choreographien verzweifelt suchen. FAZIT Inhaltlich passen die Stücke bei allen Gegensätzen gut
zueinander. Ob man allerdings so viel Nacktheit auf der Bühne sehen möchte, ist
Geschmacksache. |
ProduktionsteamCafé Müller Choreographie
Probenleitung Neueinstudierung Bühne und Kostüme Mitarbeit Tänzerinnen und Tänzer*Premierenbesetzung *Naomi Brito /
Aatt enen tionon Choreographie
Gerüst Licht Ton Tänzerinnen und Tänzer*Besetzung Aufführung 18.30 Uhr Dean Biosca
Duo Choreographie Tänzerinnen und TänzerBoris Charmatz
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