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Wir Unbehausten. Wir Irrenden.Von Stefan Schmöe / Fotos von Walter Mair
Ludwig van Beethoven soll angeblich 68mal innerhalb Wiens umgezogen sein. Eine seiner Adressen lautete: Tiefer Graben 8, im ersten Bezirk. Seinerzeit keine gute Adresse. Vermutlich lebte der Komponist dort zwischen 1815 und 1817, andere Quellen verweisen auf das Jahr 1800. Aber auf biographische Genauigkeit kommt es in dieser als "Wohnsitz mit Musik von Ludwig van Beethoven" bezeichneten Kreation des inzwischen 73jährigen Schweizer Regisseurs und Theatermachers Christoph Marthaler gar nicht an. Heute steht an der Stelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hauses ein sachlicher, man könnte auch sagen: gesichtsloser Neubau, zwischen 1963 und 1965 errichtet. Eine Plakette und ein Mosaik erinnern an den rastlosen Komponisten. Ensemble
Eine solche Fassade bildet dann auch den oberen Teil des Bühnenbilds. Ausstatterin Anna Viebrock hat ein Ensemble von mehreren halb offenen Räumen in der für sie typischen Ästhetik geschaffen: Kahle Wände oder groß gemusterte Tapeten, ein Raum ein wenig edler historisierend, ein modernes Café (oder vielleicht doch ein Gemeinschaftsraum, wie man ihn sich in einem Seniorenheim vorstellen könnte); dazwischen in der Mitte das Stiegenhaus mit einem schmiedeeisernen Gitter im Türbogen, das martialisch aus Speeren besteht. Über allem liegt die für Viehbrock und Marthaler typische Aura des Vergänglichen oder bereits Vergangenen. Die Zimmer passen nicht zusammen; sie bilden keine abgeschlossene Wohnung, sondern eher ein Bild für die Möglichkeiten von Wohnen. Zuhause ist in diesen merkwürdig leeren Zimmern, deren Wände sich kurzerhand verschieben lassen, wohl niemand, auch wenn sich gelegentlich jemand (meist Pianist Bendix Dethleffsen) an eines der verschiedenen, teilweise grauslich verstimmten Klaviere setzt. Ensemble
Das Leben hier besitzt etwas Fragmentarisches. Dem entspricht die Auswahl der Musik, die überwiegend die bekannten Werke meidet. Neben ein paar Minuten aus der Missa Solemnis gibt es viel Musik zu hören, die kaum bekannt ist - die Einleitung aus dem Oratorium Christus am Ölberg steht neben Musik für Posaunenquartett. Zudem hat Johannes Harneit eine Reihe von Skizzen und Fragmenten Beethovens für Chor, Solisten und Orchester eigerichtet - Musik, die ohne Zusammenhang entsteht und plötzlich abreißt. In dieser kunstvoll zusammengestückelten Collage steht Erhabenes neben Skurrilem. Oder beides gleichzeitig: So hört man den Beginn des Violinkonzerts mit den charakteristischen Paukenschlägen - aber statt der Geige wird der Solo-Part (mehrstimmig) gesungen. Die wohl absonderlichste Nummer ist der Beginn der Kantate Der glorreiche Augenblick, die Beethoven 1814 für die Eröffnung des Wiener Kongresses auf einen Text von Aloys Weißenbach komponierte: "Europa steht!", heißt es da, "Und die Zeiten / Die ewig schreiten / Der Völker-Chor / Und die alten Jahrhundert' / Sie schauen verwundert / Empor!". Man staunt, was der Komponist (dessen Vertonung der "Ode an die Freude" zur Europa-Hymne erkoren wurde) so hervorgebracht hat. Der Chor der Oper Basel (Einstudierung: Michael Clark), sonst mit sehr homogenem Klang eher zurückhaltend im Ton (wie sich das in einer Mietswohnung gehört), darf hier die Worte "Europa steht!" im angemessen aggressiven Forte schmettern. Kirsten Avemo
Der Kontrast von solchem (aus heutiger Sicht unfreiwillig komischen) Pathos und der kleinbürgerlichen Atmosphäre, die das typische Marthaler-Personal heraufbeschwört, machen wie immer bei Marthaler den Reiz der Produktion aus. In vielen Szenen passiert so gut wie nichts. Sätze wie "Wohnen Sie hier?" oder "Bitte kommen Sie in 20 Minuten wieder" durchziehen leitmotivisch den Abend. Dazu kommen kurze Texte des Wiener Schriftstellers Heimito von Doderer (1896 - 1966), einem Beethoven-Bewunderer, der sein letztes Projekt Roman No. 7 vierteilig in Analogie zu Beethovens 7. Symphonie geplant hatte (die hier verwendeten Textstellen stammen überwiegend aus den Divertimenti, die in den 1920er-Jahren entstanden). Die wenigen, wohl kalkulierten Aktionen auf der Bühne haben lakonischen Witz. Da schreiten in einer Art Polonaise die Akteure durch die Räume, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie man es von Darstellungen Beethovens kennt. Oder sie rollen sich in die Teppichläufer ein (und später verschämt wieder aus). Oft sitzt man einfach nur da. Manchmal mischt sich der Chor, der in Kostümen zwischen der Beethovenzeit und der Gegenwart eine Art Scharnier zwischen den Epochen bildet, unter das Personal. Ensemble
In der hier besprochenen Vorstellung leitet Johannes Harneit das Sinfonieorchester Basel, das ambivalente Eindrücke hinterlässt. Manche Einsätze "kleckern", die Intonation ist hier und da ungenau. Und dann klingt das Orchester plötzlich atemberaubend schön, zaubert samtweiche Phrasen, und das eben noch kieksende Blech könnte betörender nicht spielen. Glanz und Elend einer Sonntag-Nachmittag-Vorstellung. Sopranistin Kirsten Avemo singt mit schönem Sopran. Und das Ensemble spielt so, wie es bei Marthaler sein muss: Wunderbar unbeholfen, schüchtern, immer ein bisschen orientierungslos. Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! hieß das Stück an der Berliner Volksbühne, mit dem Christoph Marthaler 1993 der Durchbruch gelang und das bis 2006 sagenhafte 178 Vorstellungen erlebte (und dem Marthaler einen eigenen Abend als Nachruf widmete - siehe unsere Rezension). Aber jetzt wissen wir: Europa steht! Wenn auch mit viel typisch Marthaler'schem Murx, der selbst bereits hier und da Abnutzungsspuren aufweist und sich entspannt gibt, als müsse der Regisseur nicht mehr alles ausinszenieren - das marthalerkundige Publikum weiß ja eh', was jetzt kommen muss. Und natürlich endet der Abend nicht mit irgendwelchen schönen Götterfunken. Die angeblich (wir prüfen das nicht genauer nach) letzten Noten, die Beethoven zu Papier gebracht hat, haben dann auch einen gänzlich anderen Inhalt, denn dabei handelt es sich um einen Kanon mit dem Text "Wir irren allesamt, nur jeder irret anders". So ist's.
Beethoven ohne jegliches Pathos: Tiefer Graben 8 ist ein abgeklärter, melancholischer, nachdenklich stimmender, darin typischer Marthaler-Abend mit subtilem Witz. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Mitarbeit Regie
Mitarbeit Bühnenbild
Mitarbeit Kostüme
Musikalische Einrichtung
Lichtdesign
Chor
Dramaturgie
Solisten
Rufina Seifert
Rambausek
Adrian
Polt (Ein Pianist)
Julius Zihal
Adam
Snobby
Döblinger
Frau Ida
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