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Innocence

Oper in fünf Akten
Libretto von Sofi Oksanen
Übersetzung von Aleksi Barrière
Musik von Kaija Saariaho


in englischer, teilweise in finnischer, tschechischer, rumänischer, französischer, spanischer, schwedischer, deutscher und griechischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 50' (keine Pause)


Deutsche Erstaufführung im Großen Haus des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen am 28. September 2024
(rezensierte Aufführung: 5. Oktober 2024)

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Musiktheater im Revier
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Schuldig sind alle auf eigene Weise

Von Stefan Schmöe / Fotos von Karl und Monika Forster

Im Grunde ist die Sache eindeutig. Ein Schüler einer internationalen Schule hat brutal elf Menschen erschossen: Zehn Mitschülerinnen und Mitschüler und einen Lehrer. Opfer sind aber auch die traumatisierten Überlebenden, die das Geschehen nicht verarbeiten können. Und auch die Familie des Täters, die ihren Platz in der Gesellschaft neu definieren muss. "Schuld ist immer die Mutter" heißt es im Libretto. Die Chance auf ein neues Glück bietet sich, als Tuomas, der Adoptivbruder des Amokläufers, zehn Jahre nach der Tat die Rumänin Stela heiratet, die von nichts weiß. Doch dann läuft am Tag der Hochzeit durch einen dummen Zufall alles aus dem Ruder: Kellnerin Tereza ist Mutter eines der erschossenen Mädchen. Das setzt einen zerstörerischen Prozess der Erinnerung in Gang.

Vergrößerung in neuem Fenster Schule oder Festsaal? Wohl doch eher eine funktionale Raumskulptur, die Bühnenbildnerin Ines Nadler entworfen hat

Die im vorigen Jahr im Alter von 70 Jahren verstorbene finnische Komponistin Kaija Saariaho hat die Oper für das Festival d'Aix-en-Provence (und mehrere koproduzierende Theater) komponiert, wo das Werk 2021 mit großem Erfolg uraufgeführt wurde (unsere Rezension). Das Libretto stammt von der finnischen Erfolgsautorin Sofi Oksanen, von Alexi Barrière ins Englische übersetzt, wobei die überlebenden Schülerinnen und Schüler in ihrer jeweiligen Herkunftssprache singen. Oksanen und Saariaho verschränken geschickt die eigentliche Handlung (die im Desaster endende Hochzeit) mit Erinnerungen und Reflexionen der Überlebenden an den Tag des Amoklaufs. Dabei fällt dem Orchester weitgehend der Part zu, dunkel raunend einen Strom des Unbewussten zu erzeugen und die düstere Atmosphäre zu umreißen. Das gelingt Kaija Saariaho ausgesprochen gut. Die Musik verdeutlicht, dass vieles unausgesprochen geblieben ist. Denn schnell zeigt sich, dass die Wahrheit weitaus komplexer ist als auf den ersten Blick angenommen. Die Tat hätte verhindert werden können. Es gab Zeichen, Mitwisser, Ursachen. Es wird zunehmend schwieriger, eindeutig zwischen Schuld und Unschuld (englisch innocence, daher der Titel) zu unterscheiden.

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Die ahnungslose Braut Stela erfährt von Kellnerin Tereza, dass ihre neue Familie nicht so unbescholten ist wie gedacht. Ganz rechts Terezas verstorbene Tochter Markéta.

Elisabeth Stöppler hat diese deutsche Erstaufführung, die gleichzeitig die weltweit zweite Produktion des Werkes ist, sachlich und konzentriert inszeniert. Bilder des Massakers sollen ohnehin auf keinen Fall gezeigt werden, das hat die Komponistin verfügt. Stöppler stellt, ganz ähnlich der Uraufführung von Simon Stone, eine zweistöckige Galerie in klaren geometrischen Formen auf die Bühne, um simultane Aktionen zeigen zu können (Bühnenbild: Ines Nadler). Plastikschalenstühle und funktionelle Tische deuten die Austauschbarkeit des Ortes an. In einigen Szenen gibt es kurze Rückblenden an den Schulalltag, bei dem Schülerinnen und Schüler uniformiert und stark stilisiert durch Statisten dargestellt werden. Die Überlebenden sind dagegen ausgesprochen individuell gezeichnet. Die Balance von sehr genau ausgespielten Szenen und Abstraktion funktioniert sehr gut. Der Wechsel der Sprachen signalisiert nicht nur, dass die Geschichte überall spielen könnte, sondern isoliert auch die handelnden Personen: Alle reden in der eigenen Sprache zu sich selbst oder zum Publikum, aber fast nie miteinander. Es gibt keine gemeinsame Erinnerung an das Geschehen und dessen Bewertung. Damit geht auch der moralische Konsens verloren. Was Schuld und Unschuld bedeuten, hängt von der individuellen Setzung ab.

Vergrößerung in neuem Fenster Tereza und Henrik, der Vater des Amokläufers. In der Mitte die Lehrerin Cecilia.

Die Inszenierung wird von einem hervorragenden Ensemble getragen. Margot Genet singt und spielt die Braut Stela ungemein eindringlich mit mädchenhaftem Charme und einer wunderbaren Mischung aus Naivität und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Khanyiso Gwenxane gestaltet den Bräutigam Tuomas mit geschmeidigem, kraftvollem Tenor. Durchweg überzeugend sind Benedict Nelson und Katherine Allen als Eltern des Täters und des Bräutigams - wohlhabende Bürger auf der Suche nach Normalität und doch innerlich zerrissen. Hanna Dóra Sturludóttir verleiht der Kellnerin Tereza verbitterte Strenge und enorme Präsenz. Für den Handlungsstrang rund um die Hochzeit verwendet Kaija Saariaho vergleichsweise konventionell klassische Formen wie Arie und Duett. Der kompositorische Clou ist die Ausgestaltung der Partie von Terezas ermordeter Tochter Markéta (die einzige der Ermordeten, die auftritt): Hier verwendet Saariaho Elemente der samischen Volksmusik mit abrupten Registerwechseln und Brüchen in der Tongestaltung. Erika Hammarberg singt das phänomenal; engelsgleich ätherische Töne wechseln mit fast schnarrenden Tönen in kraftvoller tiefer Lage. Der besondere Gestus der Partie überhöht diese und verschafft stellvertretend den Verstorbenen eine Stimme. Anke Sieloff gibt der Lehrerin Cecilia scharfes Profil, Philip Kranjc kann den etwas hölzern angelegten Priester nicht vor Phrasendrescherei retten. Bele Kumberger, Elisa Marcelle Berrod, Sebastian Schiller, Pablo Antonio Alvarado Mejia und Danai Simantiri zeichnen die überlebenden Schülerinnen und Schüler in schillernden Farben: Extreme Individualisten allesamt, was schon die Kostüme (Frank Lichtenberg) zeigen.

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Geplatzte Hochzeit: Die Bräutigamseltern Henrik und Patricia (mit dem überflüssig gewordenen Brautkleid), Beinahe-Bräutigam Tuomas und die abreisebereite Stela

Die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi gestaltet die dunkeln Klangfarben der Partitur mit großer Souveränität und kann an (wenigen) ausgewählten Stellen auch scharf dazwischenfahren. Saariaho hat zudem einen Chor einkomponiert, der das Geschehen kommentiert und immer wieder die Namen der Ermordeten verliest. Das Chorwerk Ruhr in kleiner Besetzung ist auf der Hinterbühne in Konzertaufstellung platziert (erst am Ende treten die Sängerinnen und Sänger aus dieser Formation heraus auf die eigentliche Bühne). Mit glasklarem, vibratoarmem Klang erzeugt der Chor schwebende Klänge von bestechend reiner Intonation. Die schmerzhafte Schönheit der dissonanten Akkorde, die auch über viele Takte stehen bleiben, brennt sich ein. Wie die Oper in dieser fabelhaften Umsetzung überhaupt mehr und mehr fesselt und das Publikum nach etwas weniger als zwei kurzen Stunden (ohne Pause) betroffen zurücklässt. Ein großer Opernabend, an dessen Ende Librettistin und Komponistin vorsichtige Zeichen der Hoffnung setzen.


FAZIT

Auf der Liste der Produktionen, die man in dieser Spielzeit auf keinen Fall versäumen sollte, steht Innocence ziemlich weit oben.





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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Valtteri Rauhalammi

Inszenierung
Elisabeth Stöppler

Bühne
Ines Nadler

Kostüme
Frank Lichtenberg

Licht
Patrick Fuchs

Ton
Jörg Debbert

Choreinstudierung
Sebastian Breuing

Dramaturgie
Larissa Wieczorek


Chorwerk Ruhr

Neue Philharmonie Westfalen


Solisten

Kellnerin (Tereza)
Hanna Dóra Sturludóttir

Die Braut (Stela)
Margot Genet

Die Schwiegermutter (Patricia)
Katherine Allen

Der Bräutigam (Tuomas)
Khanyiso Gwenxane

Der Schwiegervater (Henrik)
Benedict Nelson

Der Priester
Philipp Kranjc

Die Lehrerin (Cecilia)
Anke Sieloff

Schülerin 1 (Markéta)
Erika Hammarberg

Schülerin 2 (Lilly)
Bele Kumberger

Schülerin 3 (Iris)
Elisa Marcelle Berrod

Schüler 4 (Anton)
Sebastian Schiller

Schüler 5 (Jerónimo)
Pablo Antonio Alvarado Mejìa

Schülerin 6 (Alexia)
Danai Simantiri



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