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20 dancers for the XX century and even more
Tanztheaterperformance von Boris Charmatz

Aufführungsdauer: 3h

Eine Produktion von Tanztheater Wuppertal Pina Bausch + Terrain / Boris Charmatz
Premiere im Opernhaus Wuppertal am 25. April 2025


Logo: Tanztheater Pina Bausch Terrain

Tanztheater Wuppertal
(Homepage)
Ein anderer Blick auf den Tanz und das Tanztheater

Von Stefan Schmöe

"Mein Kopf hat die Choreographie vergessen, aber mein Körper erinnert sich", sagt Barbara Kaufmann nach ihrem Solo zu Schuberts Lied Wasserflut aus Pina Bauschs Tanzabend Ein Trauerspiel von 1994. Sind einem Körper die Choreographien, die er getanzt hat, eingeschrieben? Kann ein Körper Tanz archivieren? Das jedenfalls ist der Ansatz von Boris Charmatz für die Performance 20 dancers for the XX century and even more. Wobei es, glaubt man dem Besetzungszettel, sogar 25 Tänzerinnen und Tänzer sind, die sich auf Vorder- und Hinterbühne, die Foyers, die Probebühnen, den Ballettsaal und weitere Räumlichkeiten des Wuppertaler Opernhauses verteilen, aber darauf kommt es gar nicht so genau an. Die Zahl 20 passt eben schön zum 20. Jahrhundert, das aber auch schon seit so langer Zeit Vergangenheit ist, dass eben auch viel Tanz des 21. Jahrhunderts "abgespeichert" ist. Also "even more" als nur das 20. Jahrhundert. Und man hat während der dreistündigen Performance praktisch keine Möglichkeit, alles zu erkunden und die Namensliste zu überprüfen - dazu gibt es zu viel zu sehen.

Szenenfoto Ben Wichert (Foto © Laszlo Szito)

Julie Anne Stanzak, die seit 1986 in Wuppertal tanzt, erzählt auf einer Probebühne von ihrem Kindheitstraum, Balletttänzerin zu werden. Sie tanzt ein paar Schritte zu Tschaikowskys Streicherserenade und deutet die Eleganz von George Balanchines Choreographie Serenade (1934) an, gerät kurz über Hans van Manen ins Schwärmen, und landet dann bei Pina Bauschs Ten Chi (2004), dessen langes Solo sie im fortdauernden Redefluss kommentiert, als gebe Pina Bausch persönlich die Anweisungen. So ahnt man, was in einer Tänzerin beim Tanzen vorgeht - eine faszinierende Mischung aus Anspannung, Konzentration, der Erinnerung an Bewegungsfolgen und der Interpretation. Solche Momente, die den Blickwinkel öffnen, machen den Charme der Produktion aus. Und auch, wie Julie Anne Stanzak mit ihrer Präsenz das Publikum, das an den Wänden des Saales steht oder sitzt, im Griff hat, wie sie mit Anspannung ihres Körpers die Konzentration im Raum ansteigen lässt und umgekehrt sich auch die Entspannung überträgt.

Szenenfoto

Johanna Elisa Lemke (Foto © Evangelos Rodoulis)

Das Konzept hat Boris Charmatz, noch bis zum Ende der Saison künstlerischer Leiter des Tanztheaters Wuppertal, bereits 2012 entworfen und in Rennes am Musée de la danse / Centre chorégraphique national de Rennes et de Bretagne zur Uraufführung gebracht - und seitdem an vielen Orten der Welt, mehrfach etwa in Kunstmuseen, wiederholt. Für diese Aufführungsserie hat er 11 Tänzerinnen und Tänzer der Wuppertaler Compagnie und 14 Gäste eingeladen. Selbst wenn man, wie oben erwähnt, nur einen Teil der Performance sehen kann, lässt sich konstatieren: Ein Archiv oder gar Museum des Tanzes, wie Charmatz es angekündigt hat, erlebt man als Betrachter nicht. Jedenfalls nicht im Sinne eines enzyklopädischen Überblicks über die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Qulitäten liegen woanders: In den besten Momenten kommt man bestimmten Ideen von Tanz nahe - und den Ausführenden sowieso.

Szenenfoto Michael Strecker (Foto © Evangelos Rodoulis)

Nicht alles funktioniert ohne Reibungsverluste. Julien Monty tanzt auf der Hinterbühne Ausschnitte aus Mitten im Leben sind von Anna Teresa de Keersmaker (die Produktion war 2017 bei der Ruhrtriennale zu sehen - unsere Rezension) zu Bachs Suiten für Solo-Cello - während von der Hauptbühne ganz andere Klänge herüberschwappen und den intimen Vortrag stören. Asha Thomas (Jazztänze) oder Ben Wichert (Hip Hop Freestyle) animieren da möglicherweise gerade zum Mitmachen, offenbar erfolgreich. Frank Willens räkelt sich im Magazin neben der Bühne auf dem Boden und verwickelt die Anwesenden in Diskussionen über Nietzsche, was im Vorübergehen schwer verdaulich ist. Man muss sich einlassen auf die Künstlerinnen und Künstler, Zeit investieren bei seinem Rundgang, den man vollständig frei steuern kann. Vielleicht erschließt sich dann auch die beinahe hyperaktive Fröhlichkeit von Johanna Elisa Lemke, die Tanzfilme der 1980er- und 90er-Jahre zum Thema ihres Auftritts macht. Die Performance von Pol Pi mit Ausschnitten aus Affectos humanos von Dore Hoyer (1962) erfordert auf andere Weise immense Konzentration, die sich in diesem Format, das zum Herumschlendern einlädt, schwer einstellt.

Szenenfoto

Ditta Miranda Jasjfi (Foto © Karl-Heinz Krauskopf)

Es mag auch mit der besonderen Situation in Wuppertal zusammenhängen, wo sich Tanztheater seit Mitte der 1970er-Jahre mehr oder weniger ausschließlich über das Werk von Pina Bausch definiert, dass die Tänzerinnen und Tänzer aus dem hauseigenen Ensemble die stärksten Eindrücke hinterlassen. (Oder ist das der subjektive Blick des durch Pina Bausch für das Tanztheater sozialisierten Betrachters?) Die gebürtige Indonesierin Ditta Miranda Jasjfi, seit 2000 im Ensemble, erzählt mit unwiderstehlichem Charme von ihrem Werdegang vom Kinderballett in Paris über den Unterricht in traditionellen Tänzen Südostasiens in ihrem Heimatland, dem Studium an der Folkwang-Schule in Essen und das Engagement in Wuppertal, wo sie sofort die Hauptrolle in Das Frühlingsopfer (Le sacre du printemps) übernahm - und sie endet mit einem intensiv getanzten Solo aus Ten Chi. Michael Strecker, seit 1996 am Haus, präsentiert eine Hommage an den legendären und viel zu früh verstorbenen Jan Minarik, den ewige Außenseiter in den Stücken Pina Bauschs, der ihm seine Rollen übergeben hat. Strecker legt eine ungeheure Zärtlichkeit in die Erinnerungen an den Tänzer, der in seinen witzigen Szenen so unendlich viel Traurigkeit und in seine Trauer so viel anarchischen Witz verpacken konnte. Auch das sind Szenen, in denen eine andere, erweiterte Sicht auf den Tanz entsteht und wegen der man gerne noch eine oder zwei Stunden länger bei 20 dancers for the XX century and even more ausgeharrt hätte.


FAZIT

Boris Charmatz hat ein spannendes Format entwickelt, bei dem nicht alles funktioniert, das aber vor allem dort, wo sich Verbindungen zum Werk Pina Bauschs aufzeigen, zu berührenden Momenten und zu manchen überraschenden Perspektivwechseln führt.



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Produktionsteam

Konzept
Boris Charmatz

Mitarbeit Proben
Çağdaş Ermiş


Tänzer:innen

* als Gast

Laura Bachman*
Dean Biosca
Naomi Brito
Magali Caillet Gajan*
Ashley Chen*
Olga Dukhovna*
Bryana Fritz*
Johanna Elisa Lemke*
I-Fang Lin
Filipe Lourenço*
Ditta Miranda Jasjfi
Luciény Kaabral
Barbara Kaufmann
Nayoung Kim
Eddie Martinez
Fabrice Mazliah*
Julien Monty*
Pol Pi*
Manon Santkin*
Julie Anne Stanzak
Michael Strecker
Christopher Tandy
Asha Thomas*
Ben Wichert*
Frank Willens

Uraufführung: 4. November 2012,
Les Champes Libres, Rennes


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Tanztheater Wuppertal
(Homepage)




Da capo al Fine

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