Biblischer Stoff in klassischer Inszenierung
Von Thomas Molke
/ Fotos: © Studio Amati Bacciardi (Rossini Opera Festival)
Als der französische Komponist Ferdinand Hérold 1821 nach Italien reiste, um für das Théâtre-Italien in Paris neue Sängerinnen und Sänger zu akquirieren, war es eine
Aufführung von Rossinis Mosè in Egitto in Florenz, die den jungen
Franzosen derart begeisterte, dass er Rossini in Neapel aufsuchte und einlud,
seine Karriere in Paris mit französischen Opern fortzusetzen. Bevor es
allerdings zu einer in diesem Zusammenhang geplanten Umarbeitung des biblischen Stoffes kam, wandelte Rossini zunächst
die ernste Oper Maometto II. in Paris zu Le siège de Corinthe um
und konnte damit so große Erfolge feiern, dass die französische Version sogar
ins Italienische übertragen wurde und dort unter dem Titel L'assedio di
Corinto gespielt wurde. Erst 1827 kam dann Moïse et Pharaon, die
häufig noch den Zusatz Le passage de la Mer Rouge trägt, an der Pariser
Oper zur Uraufführung und degradierte die italienische Urfassung Mosè in
Egitto für viele Zeitgenossen zu einer Art "Vorstufe", so dass die
vieraktige französische Fassung später in Italien auch unter dem Titel Mosè e
Faraone zu erleben war. Nachdem man beim Rossini Opera Festival 2011
die italienische Urfassung Mosè in Egitto zur Aufführung gebracht hat
(siehe auch unsere
Rezension), wollte man eigentlich, wie bei der Entstehung der beiden Werke,
neun Jahre später die französische Version Moïse et Pharaon
präsentieren. Doch die Corona-Pandemie hat dieser Planung einen Strich durch die
Rechnung gemacht. Nun folgt der französische Moïse dem italienischen
Mosè zehn Jahre später.
Moïse (Roberto Tagliavini, vorne rechts)
bittet Gott um Unterstützung für die Hebräer (Chor mit Anaï (Eleonora Buratto)).
Obwohl Rossini einen Großteil der Musik aus Mosè in Egitto übernommen und
nur drei musikalische Nummern komplett neu komponiert hat, ist die italienische
Vorlage kaum wiederzuerkennen, da die einzelnen Stücke nicht nur völlig neu
angeordnet, sondern teilweise auch anderen Figuren zugeteilt werden. Die Musik
der Trauerarie der Hebräerin Elcia (Anaï), in der sie in der italienischen Fassung
den Tod ihres heimlichen Gatten Osiride (Aménophis) im zweiten Akt beklagt, wird
in Moïse et Pharaon auf die Pharaonengattin Sinaïde übertragen.
Sie versucht darin, ihrem Sohn, der in der französischen Fassung nicht durch eine
Blitzschlag im zweiten Akt stirbt, sondern erst am Ende der
Oper mit den Ägyptern in den Fluten des Roten Meeres untergeht, Trost zu
spenden, da er die armenische Prinzessin heiraten soll und auf Anaï, die im
Gegensatz zur italienischen Fassung "nur" seine heimliche Geliebte ist,
verzichten muss. Auch der Handlungsablauf wird bis zum Auszug der Israeliten aus
Ägypten mit der Teilung des Roten Meers und der anschließenden Überflutung der
Ägypter komplett umgestellt. Die Finsternis, mit der Mosè in Egitto
beginnt, steht in der französischen Fassung erst am Beginn des zweiten Aktes und
ist eine Konsequenz dafür, dass der Pharao Moïse und seinem Volk unter
Einfluss seines Sohns Aménophis erneut den Auszug verweigert. Der Pharaonensohn wird in der
französischen Fassung auch wesentlich rachsüchtiger und egoistischer gezeichnet.
Die Gattin des Pharaos Sinaïde empfindet zwar Sympathie für Moïse und sein Volk,
begleitet aber nicht wie Amaltea in der italienischen Fassung die Hebräer beim
Auszug aus Ägypten. Neu sind die Balletteinlagen im dritten Akt, die den
Gepflogenheiten der Pariser Oper geschuldet waren. Darin feiern die Ägypter vor
dem Isis-Tempel ihre höchste Göttin. Erst als Moïse die Isis-Statue beim
Fest zum Einsturz bringt, da der Hohepriester, der in der französischen Fassung
Osiride (wie der Pharaonensohn in der italienischen Fassung) heißt, verlangt,
dass Moïse und sein Volk die Göttin anbeten, ist der Pharao bereit, die
Hebräer ziehen zu lassen, legt ihnen dazu allerdings Ketten an. Beim berühmten Gebet
im vierten Akt lösen sich diese Ketten jedoch, bevor sich das Rote Meer teilt.
Im Anschluss an den Marsch der Hebräer durch das Rote Meer hat Rossini noch eine Cantique, einen Dankeschor der Hebräer, komponiert, der nur im Klavierauszug
enthalten ist. Die Partitur weist auf, dass diese Nummer zurückgezogen worden
sei. Ob sie bei der Uraufführung noch gespielt worden ist, lässt sich heute
nicht mehr nachvollziehen. In Pesaro wird diese Schlussmusik - anders als in Bad
Wildbad vor drei Jahren - gespielt.
Osiride (Nicolò Donini, vorne rechts) und Pharaon
(Erwin Schrott, hinten rechts) verlangen von Moïse (Roberto Tagliavini,
Mitte), dass er die Göttin Isis anbetet (auf der linken Seite: Sinaïde (Vasilisa
Berzhanskaya) und Aménophis (Andrew Owens), in der Mitte daneben von links:
Marie (Monica Bacelli), Anaï (Eleonora Buratto) und Éliézier (Alexey
Tatarintsev)).
Regisseur Pier Luigi Pizzi wird in Pesaro seit vielen Jahrzehnten
für seine in der Regel eher konventionell gehaltenen Inszenierungen geliebt.
Erinnert sei an dieser Stelle an
La pietra
del paragone 2017 und
Il barbiere
di Siviglia 2018, die in den letzten Jahren sicherlich zu Höhepunkten
des Festivals zählten. Auch bei Moïse et Pharaon verzichtet er auf
eine moderne Übertragung der Handlung und belässt die Geschichte in der Zeit,
ohne sich dabei in triefendem Kitsch zu ergehen. Die Kostüme bestechen eher
durch durchdachte Farbgebung als durch große Opulenz. So tragen die männlichen
Ägypter lange Gewänder in sattem Blau. Die Ägypterinnen sind durch ähnliche
Kostüme in Lila gekennzeichnet. Dagegen wirken die Hebräer in ihren blassen
weißgrauen Gewändern wie das arme Volk, das in Ägypten in Knechtschaft gehalten
wird. Für die diversen Wunder kommen relativ abstrakte Videoprojektionen von
Matteo Letizi zum Einsatz. So ist der Isis-Tempel eine weiße große Pyramide, die
Moïse mit der Anrufung Gottes zum Einsturz bringt. Wenn Moïse im
ersten Akt die Gesetzestafeln erhält, sieht man einen weißen Bogen, der wie eine
Brücke aus dem Himmel auf die Erde hinabzuführen scheint. Am Ende des ersten
Aktes sieht man dann Feuerfontänen, die als glühende Lava die Ebene von Memphis
und die ägyptischen Soldaten unter sich zu begraben scheinen. Sehr eindrucksvoll
gelingt die Teilung des Roten Meers im vierten Akt. Im Hintergrund sieht man
schon von Beginn an das ruhig fließende Meer, das dann von Moïse nach dem
Gebet geteilt wird. Die Hebräer verlassen die Bühne, die im Hintergrund
herabführt, und scheinen so durch das geteilte Meer zu laufen. Wenn dann die
Ägypter auftreten, um ihnen nachzujagen, schlagen hohe Wellen in der Projektion
zusammen. Der Pharao und sein Sohn steigen ebenfalls die Bühne herab und
versinken sofort in diesen Wellen, während die ägyptischen Soldaten noch lange
Widerstand leisten, bevor sie dem Kampf mit dem Meer schließlich auch
unterliegen.
Ballett im dritten Akt mit Maria Celeste Losa und
Gioacchino Starace in der Mitte
Da man in Pesaro gewöhnlich keine Striche in der Partitur macht,
wird auch das Ballett im dritten Akt nicht ausgelassen. In insgesamt drei
Tanzszenen feiern die Ägypter ihre Göttin Isis. Die Tänzer tragen dabei das
gleiche Blau wie die übrigen Ägypter. Die Choreographie von Gheorghe Iancu
wechselt zwischen klassischen und leicht abstrakten Elementen, wobei sich der
Inhalt nicht wirklich erschließt. Wahrscheinlich sollen die primi ballerini
Maria Celeste Losa und Gioacchino Starace die Gottheiten Isis und Osiris
darstellen, die eine Art Fruchtbarkeitstanz vollziehen. Am Ende bringt die
Tänzerin jedenfalls ein Kind zur Welt. Dieses Kind ist in ein weißes Gewand
gekleidet und erinnert an den hebräischen Jungen, der zu Beginn des ersten Aktes
vor den ägyptischen Soldaten flieht und schließlich bei Moïse Schutz findet
und am Ende, nachdem die Hebräer das Rote Meer durchquert haben und ihrem Gott
mit der Cantique gedankt haben, aus dem Hintergrund wieder auftaucht und wie ein
Heilsbringer von Moïse zum Schlussbild emporgehoben wird. Soll damit
bereits beim Isis-Fest die Überlegenheit der Hebräer angedeutet werden? Eine
Kürzung der Ballettszenen hätte jedenfalls dem Genuss des Abends keinen Abbruch
getan, zumal man dann auch vielleicht mit einer Pause ausgekommen wäre.
Pharaon (Erwin Schrott) und Sinaïde (Vasilisa Berzhanskaya)
werden durch die göttlichen Zeichen beunruhigt.
Ansonsten möchte man bei dieser wunderbaren Musik auf keine
weitere Note verzichten, zumal man in Pesaro bei dieser Produktion über ein
hervorragendes Ensemble verfügt, das keine Wünsche offen lässt. Da ist zunächst
Roberto Tagliavini zu nennen, der als Moïse mit fulminantem Bass und
markanten Tiefen die Autorität dieser Figur unterstreicht. Da wirkt es absolut
glaubhaft, dass er mit seiner sonoren Stimme die Projektionen auf der Rückwand
auslöst. Das berühmte Gebet im vierten Akt, "Des cieux où tu résides" setzt er
mit großem Pathos und voller Überzeugungskraft an. Der Coro del Teatro Ventidio
Basso unter der Leitung von Giovanni Farina stimmt stimmgewaltig mit ein und
lässt auch ansonsten mit homogenem Klang den Abend zu einem Fest der
Chorpassagen werden. Da stört es auch nicht, dass er in der Masse wenig
Bewegungsspielraum hat und häufig in großen Bildern erstarrt. Erwin Schrott legt
den Gegenspieler Pharaon mit dunklen und kräftigen Tiefen an und bringt mit
großen Gesten und teils selbstverliebtem Spiel die Arroganz des ägyptischen
Herrschers glaubhaft zum Ausdruck. Andrew Owens leistet in der anspruchsvollen
Tenorpartie des Aménophis Außerordentliches und setzt auch die extremen Höhen
sauber und ohne Forcieren an. Eleonora Buratto ist eine stimmgewaltige Anaï,
deren dramatische Ausbrüche mit stupenden Höhen unter die Haut gehen. Gemeinsam
bewegt sie mit Owens in ihrem Duett im vierten Akt, wenn Anaï sich
schließlich schweren Herzens gegen ihren Geliebten entscheidet. Auch ihr Duett
im ersten Akt mit Owens, wenn Aménophis die Geliebte bittet, bei ihm zu bleiben,
bewegt genauso wie das folgende Duett mit ihrer Mutter Marie (Monica Bacelli),
in der die beiden Frauen den Beistand ihres Gottes erflehen.
Verbotene Liebe: Anaï (Eleonora Buratto) und Aménophis (Andrew
Owens)
Als weiterer musikalischer Höhepunkt darf das Finale des dritten
Aktes bezeichnet werden, in dem das große Quartett aus dem italienischen Mosè
in Egitto, "Mi manca la voce", erklingt. Gemeinsam mit Vasilisa Berzhanskaya
als Sinaïde und Alexey Tatarintsev als Éliézer leiten Buratto und Owens
hier bewegend das große Finale des dritten Aktes ein. Berzhanskaya begeistert
als Gattin des Pharaos mit stupenden Höhen und großer Strahlkraft. Besonders
hervorzuheben ist ihre große Arie am Ende des zweiten Aktes, "Ah! d'une tendre
mère", in der sie darauf vertraut, dass mit der geplanten Hochzeit ihres Sohnes
mit einer armenischen Prinzessin alles noch ein gutes Ende nehmen wird. Das
Publikum ist nach ihrer Interpretation derart begeistert, dass der Jubel und
Applaus gar nicht abnehmen wollen und Berzhanskaya eine gefühlte Ewigkeit mit
Owens als ihrem Sohn in der Umarmung verharren muss. Tatarintsev gestaltet die
Partie von Moïses Bruder Éliézer (in der italienischen Fassung Aronne) mit
geschmeidiger Stimmführung, die auch in den Höhen nicht angestrengt klingt. In
den kleineren Rollen überzeugen Monica Bacelli als Moïses Schwester und Anaïs Mutter
Marie mit sattem Mezzosopran, Nicolò Donini als Oberpriester Osiride und Voix
mystérieuse mit kräftigem Bariton und Matteo Roma als Aufide mit klarem Tenor.
Die musikalische Leitung des Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai liegt in
den Händen von Giacomo Sagripanti, der viel Gespür für eine gute Balance
zwischen Orchester und den Solisten beweist. So gibt es am Ende verdienten
Beifall für alle Beteiligten, in den sich auch das Regie-Team einreiht.
FAZIT
Pier Luigi Pizzi beweist erneut, dass man auch ohne modernes Regietheater einen
packenden Opernabend gestalten kann, der mit kleinen Längen bei den
Balletteinlagen auch über vier Stunden trägt.
Musikalisch bietet der Abend puren Rossini-Genuss.
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