Zur OMM-Homepage Zur OMM-Homepage Veranstaltungen & Kritiken
Musiktheater
Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum



Surrogate Cities

Ballett von Demis Volpi
Musik von Heiner Goebbels

Aufführungsdauer: ca. 2h (eine Pause)

Uraufführung im Opernhaus Düsseldorf am 26. April 2024
(rezensierte Aufführung: 11. Mai 2024)


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Tanzsymphonie der Großstadt

Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stoess

Zum Saisonfinale darf es bitteschön spektakulär werden: Demis Volpi mobilisiert noch einmal alle Kräfte. Die gesamte Compagnie des Balletts am Rhein ist auf den Beinen. Die Düsseldorfer Synphoniker spielen in großer Besetzung. Sie sitzen sogar ganz partnerschaftlich auf der Bühne und werden so auch szenisch Teil des Geschehens. Es dirigiert der angehende GMD Vitali Alekseenok. Auf dem Programm steht Surrogate Cities von Heiner Goebbels, ein rund 90-minütiger Orchesterzyklus (hier werden sechs der sieben Sätze aufgeführt), der sich mit dem Phänomen der Großstadt befasst. Die Musik klingt manchmal geräuschhaft, manchmal in (tonale) Partikel fragmentiert, greift immer wieder vertraute Floskeln etwa aus der Barockmusik auf wie ferne Zitate, und sie streift den Jazz nicht nur. Gershwin und die West Side Story liegen in der Luft. Es wird gesungen und gesprochen (Texte von Paul Auster, Heiner Müller und Hugo Hamilton), in englischer Sprache, dann allerdings wird's ein bisschen kompliziert, denn auf die Musik und auf den Tanz und auf die Übertitel zu achten, das ist dann doch etwas viel. Aber Goebbels' Musik, uraufgeführt 1994 und gar nicht so selten gespielt (z.B. hier oder hier), entwickelt einen ganz eigenen Sog, und sie wird fabelhaft zum Klingen gebracht. Neben dem ausgezeichneten Orchester sind dafür Posaunist Matthias Muche, der in dem an den Beginn gestellten Satz "Die Faust im Wappen" (auf einen Text von Kafka über die Stadt Prag und deren Wappen bezogen) mit einem großen Solo den Abend beginnt, und Sopranistin Tamara Lukasheva verantwortlich.

Vergrößerung Die Individualistin mit der Sonnenbrille: Emilia Peredo Aguirre

Toller Sound also für einen großen Ballettabend. Aber es ist ja auch nicht irgendein Saisonfinale, sondern die letzte Produktion des Düsseldorfer Ballettchefs, den es als Nachfolger des großen John Neumeier nun nach Hamburg zieht. Beim Amtsantritt 2020 in Düsseldorf und Duisburg hatte Volpi wegen der Corona-Pandemie denkbar schlechte Startbedingungen. So reichten die ohnehin kurzen vier Jahre am Rhein nicht aus, um hier so etwas wie eine Ära zu gestalten, auch weil Volpi zwischen Handlungsballett und Abstraktion seinen Stil als Choreograph wie als Programmgestalter erst finden musste. Krabat hat er als seinen wohl größten Erfolg mitgebracht, eine beachtliche Giselle war die spannende Alternative zum Traditionalismus Ben Van Cauwenberghs im benachbarten Essen. Sicher ist seine Ästhetik gefälliger als die seines ziemlich genialen Vorgängers Martin Schläpfer, der im Spannungsfeld zwischen Balanchine, van Manen und eigenen Choreographien das Ballett am Rhein zu einem der spannendsten Ensembles der Tanzszene werden ließ. Ganz so groß sind die Fußstapfen nicht, die Volpi seiner Nachfolgerin Bridget Breiner hinterlässt.

Vergrößerung

Pas de Deux, beinahe neoklassisch, zu Heiner Müllers "Horatier Songs": Norma Magalhães und Damián Torío

In Surrogate Cities zeigt Volpi eindrucksvoll die Bandbreite seiner choreographischen Möglichkeiten - wobei er trotz des episodischen Charakters des Abends auf konkret narrative Strukturen verzichtet und abstrakt bleibt. Das Phänomen "Stadt" spiegelt er im Gegensatz von Kollektiv und Individuum. Am schärfsten ist das in der Eingangssequenz ausformuliert. Posaunist Matthias Muche, als Solist und Individuum vor dem Orchesterkollektiv stehend, bekommt mit Tänzerin Emilia Peredo Aguirre eine Solistin als tänzerisches Pendant zur Seite gestellt, sehr cool mit gewaltig großer Sonnenbrille. Im Kontrast dazu formiert sich die Compagnie, zunächst mit dem Rücken zum Publikum und mit Blick auf das Orchester, und alle deuten pantomimisch das Spiel mit einem Kontrabass an, als werde das Grundrauschen der Großstadt übernommen. Eine Interaktion zwischen Gruppe und Solistin findet aber nicht statt. Der urbane Raum bleibt, das gilt für den gesamten Abend, ein Nebeneinander von Parallelwelten.

Vergrößerung Orgie oder Skulptur? Ensemble

Auf der Bühne (Katharina Schlipf), die den Orchestergraben überbaut und ganz nahe an das Publikum heranrückt, deuten provisorische Treppentürme rechts und links sowie Andeutungen von Industriearchitektur im Hintergrund die Metropole an. In einer Szene fahren leuchtende Stäbe vom Bühnenhimmel herunter und geben ein unregelmäßiges Muster; mit etwas Fantasie mag man die Fassade von Daniel Libeskinds Kö-Bogen, einen Steinwurf vom Düsseldorfer Opernhaus entfernt, erahnen. Mehr Stadt gibt's nicht, jedenfalls nicht in visualisierter Form - die Stadt bleibt ein Gedanken- und Gefühlsraum. Die anfänglich schwarzen Anzüge (Kostüme: Thomas Lempertz), unter deren Jacken sich meist keine oder hautfarbene Oberteile befinden, weichen mehr und mehr alltagstauglichen Shirts, was eine allmähliche Verschiebung von anonymer Uniformität zur Individualität hin bedeutet. Geschlechterrollen werden in den Unisex-Kostümen nicht unbedingt aufgehoben, spielen aber oft keine Rolle. Im Tanz kann das anders aussehen. Volpi choreographiert verschiedene beinahe neoklassische, sehr schöne Pas de Deux, bei denen der Mann die Partnerin nach alter Schule hebt. Es gibt auch Pas de Deux unter Männern, die aber anderen Regeln folgen, mehr dem modernen Tanz. Und ein rein männlicher Pas de trois wird zur akrobatischen Übung, an der verschiedene Trios witzig scheitern.

Vergrößerung

Pas de Deux im Spannungsfeld zwischen gelber Socke und Spitzenschuh: Daniele Bonelli und Futaba Ishizaki

Manche Szenen zeigen eine große Nähe zur Revue. Lara Delfino als geheimnisvolle femme fatale mit Fächer wird von einem Trio, später einer Gruppe eskortiert. An anderen Stellen werden Mittel des Tanztheaters verwendet, mit direktem Kontakt zum Publikum (die Plätze in Reihe 1 Mitte erfordern eine gewisse Nervenstärke, wenn man von einer größeren Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern scharf fokussiert wird). In einer Szene reihen sich die Akteure auf, um in skurriler Art den Hut an die nächste Person weiterzugeben (solche Ensembleszenen könnten größere Präzision vertragen). Sehr deutlich vorgeführt wird der Kontrast zwischen flacher Sohle und Spitzentanz, den es immer wieder und oft in extremer, gewollt "unpassender" Form als irritierendes Moment zu bestaunen gibt. Der erste Teil des (mit Pause) rund zweistündigen Abends endet mit einer orgiastischen Szene, in der Tänzerinnen und Tänzer, bis auf hautfarbene Unterwäsche entkleidet, ein verschlungenes skulpturales Knäuel bilden. Das Finale gehört Jack Bruce, der in einem aberwitzigen Solo zwischen Club und Street Dance den akademischen Tanz hinter sich lässt und dabei den Text von Hugo Hamilton ins Mikrophon zischt. "In den Straßen zu rennen sieht aus, als gehörtest Du gar nicht dorthin."

Vergrößerung Finale mit Textauszügen aus Surrogate City von Hugo Hamilton: Jack Bruce

Surrogate Cities hat hohes Tempo, ist in seiner abwechslungsreichen Bilder- und Tonflut sehr kurzweilig, vor allem in den Soli und kleinen Besetzungen großartig getanzt, und man hat den Eindruck, jedes Mitglied der Compagnie bekommt einen eigenen Auftritt. Manches ist ein wenig reißerisch geraten, aber das akzeptiert man gerne. Fügt sich die Szenenfolge zu einer großen Erzählung? Ja und nein. Die disparate Vielschichtigkeit der Stadt ist sicher ebenso abgebildet wie die Vielfalt der Individuen oder das Mit- und Gegeneinander (und das Aneinander-vorbei). Die Choreographie lässt sich als schillernde, in ihrem virtuosen Schwung leicht unterkühlte Beschreibung des Phänomens "Stadt" lesen. Ein wenig kurz kommt die emotionale Geschichte dahinter.


FAZIT

Mit Surrogate Cities hat Demis Volpi nach vier Jahren als Ballettchef am Rhein eine rauschende und mitreißende Abschiedsparty choreographiert.


Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)

Produktionsteam

Musikalische Leitung
Vitali Alekseenok

Choreographie
Demis Volpi

Bühne
Katharina Schlipf

Kostüme
Thomas Lempertz

Licht
Elana Siberski

Dramaturgie
Julia Schinke



Düsseldorfer Symphoniker


Solisten

Sopran
Tamara Lukasheva

Solo-Posaune
Matthias Muche

Akrobatin
Susanne Kahl

Tänzerinnen und Tänzer

Camilla Agraso
Paula Alves
Joaquin Angelucci
Yara Araujo De Azevedo
Daniele Bonelli
Yoav Bosidan
Jack Bruce
Gustavo Carvalho
Maria Luisa Castillo Yoshida
Wun Sze Chan
Lara Delfino
Orazio Di Bella
Sara Giovanelli
Philip Handschin
Futaba Ishizaki
Charlotte Kragh
Evan L'Hirondelle
Samuel López Legaspi
Nelson López Garlo
Norma Magalhães
Pedro Maricato
Miquel Martínez Pedro
Neshama Nashman
Clara Nougué-Cazenave
Rose Nougué-Cazenave
Marco Nestola
Emilia Peredo Aguirre
Ako Sago
Dukin Seo
Courtney Skalnik
Kauan Soares
Edvin Somai
Damián Torío
Andrea Tozza
Vinícius Vieira
Elisabeth Vincenti
Imogen Walters
Long Zou



Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Ballett am Rhein
(Homepage)



Da capo al Fine

Zur OMM-Homepage Musiktheater-Startseite E-Mail Impressum
© 2024 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de

- Fine -